Ort des Verbrechens
5. September 2013
Ein Besuch im weißrussischen Maly Trostinec
Juli-Aug. 2010
Maly Trostinec bei Minsk ist ein, auch unter Interessierten, kaum bekannter Ort. Mit mehr als 200.000 Toten ist Maly Trostinec das Vernichtungslager in der gesamten früheren Sowjetunion, in dem die meisten Menschen umgebracht wurden. Mit vermutlich 9.600 Ermordeten aus Österreich (der »Ostmark«) – der Großteil von ihnen aus Wien – ist Maly Trostinec nach Auschwitz mit über 11.000 Deportierten jener Ort der Shoah, an dem mehr Jüdinnen und Juden aus Österreich ermordet wurden als in jedem anderen Vernichtungslager. Weitere Städte, aus denen Jüdinnen und Juden hier her deportiert wurden, sind Köln und Königsberg sowie das Lager Theresienstadt. Bereits 1941 wurden Menschen aus Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt, Berlin und Brünn ins Ghetto von Minsk deportiert.
Es verwundert, dass Maly Trostinec im kollektiven Gedächtnis der antifaschistischen Gemeinschaft kaum bis gar nicht bekannt ist. Diese Wissenslücke gilt es zu schließen! Durch neu entstehende Privatinitiativen und Vereine, die die etablierten Verbände und Institutionen wie den »Bund sozialdemokratischer Freiheitskämpfer, Opfer des Faschismus und aktiver Antifaschisten«, den »KZ-Verband«, das »Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands« und andere ergänzen, werden in Österreich heute neue Formen des Gedenkens und Erinnerns entwickelt und Anstöße zum Schließen von Lücken gegeben. Unser Bund ist gefordert, diese Initiativen politisch zu bewerten und ggf. mit seinen Kontakten zu Institutionen und seinem Wissen zu unterstützen.
Die Spur der Vernichtung in Maly Trostinec reicht in die Zeit vor der deutschen Besetzung zurück: 1937 und 1938 ermordete der Geheimdienst NKWD im Zuge der »großen Tschistka« (»große Säuberung«) in Maly Trostinec tausende Sowjetbürger. So zynisch es klingt: Als die Wehrmacht im Juni 1941 binnen einer Woche nach Minsk vorgedrungen war, fand man in Maly Trostinec (»Blagowschtschina«) bereits eine Tötungsinfrastruktur vor, die die SS für ihre Zwecke weiter verwenden konnten. Dies ist, neben dem Antisemitismus/Antizionismus, der auch nach 1945 in der Sowjetunion vorhanden war, eine weitere Erklärung, warum erst sehr spät begonnen wurde, die Nazi-Verbrechen an diesem Ort historisch zu untersuchen.
Zu Pfingsten 2010 fand eine private Gedenkreise einer Gruppe aus Wien nach Belarus statt. Die Gruppe entstand im Zusammenhang mit dem »Weg der Erinnerung« – in den Bürgersteig eingelassenen Stolpersteinen – in Wien-Leopoldstadt. Bei den StifterInnen der Steine handelt es sich um nachgeborene Verwandte und heutige BewohnerInnen der Wohnungen der Deportierten. Die Leopoldstadt, der 2. Bezirk, trug den Spitznamen »Matzesinsel«, war sie doch mit mehr als der Hälfte der Bezirk mit dem größten jüdischen Bevölkerungsanteil – bis 1938.
Wer über Maly Trostinec schreibt muss auch über Weißrussland während der Besetzung durch die Deutsche Wehrmacht schreiben und die Verbrechen in diesem Land insgesamt: Jeder dritte (!) Bewohner von Belarus in seinen heutigen Grenzen fiel dem nazistischen Rassenwahn zum Opfer. In Summe 2,3 Millionen Menschen, davon mit 800.000 mehr als ein Drittel Jüdinnen und Juden. Der »Generalplan Ost« sah die vollkommene Eliminierung des Judentums und die Halbierung der slawischen Bevölkerung vor. Tatsächlich wurden bis Kriegsende etwa 30 Millionen Militärangehörige und Zivilisten slawischer Völker getötet (Russen, Ukrainer, Belarussen, Polen, Tschechen, Slowaken, Serben, Kroaten, Bosnier usw.), über 20 Millionen davon aus der Sowjetunion (das waren über 10 Prozent der Bevölkerung), mehr als sechs Millionen Polen (über 17 Prozent), über zwei Millionen aus Jugoslawien (mehr als 10 Prozent).
Die zentrale nationale Gedenkstätte in Belarus befindet sich in Chatyn, das ein vergleichbares Schicksal wie Lidice hatte. Das gesamte Dorf Chatyn wurde dem Erdboden gleich gemacht, die 149 DorfbewohnerInnen in eine Scheune getrieben, dort eingesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt. Der Film »Geh und sieh«, einer der eindrucksvollsten antifaschistischen Filme sowjetischer Herkunft, basiert auf den Ereignissen in Chatyn am 22. März 1943. Insgesamt zerstörten die Deutschen 628 Dörfer so wie Chatyn, 186 davon hat man nicht mehr aufgebaut. Die dortige Gedenkstätte wurde 1969 eröffnet.