Die Stalingrad-Madonna
5. September 2013
Ein Zeugnis, das zum Frieden mahnt
Jan.-Feb. 2013
Dezember 1942
Wie Wintergewitter ein rollender Hall.
Zerschossen die Lehmwand von Bethlehems Stall.
Es liegt Maria erschlagen vorm Tor,
Ihr blutig Haar an die Steine fror.
Drei Landser ziehen vermummt vorbei.
Nicht brennt ihr Ohr von des Kindes Schrei.
Im Beutel den letzten Sonnblumenkern,
Sie suchen den Weg und sehn keinen Stern.
Vor Stalingrad verweht die Chaussee.
Sie führt in die Totenkammer aus Schnee.
Peter Huchel »Chausseen, Chausseen«, S.-Fischer-Verlag, Frankfurt a. Main, 1953
Zum 70. Jahrestag der Zeichnung erschien eine Neuauflage des Buches: »Die Stalingrad-Madonna. Das Werk Kurt Reubers als Dokument der Versöhnung«, Hrsg. von Martin Kruse, Lutherisches Verlagshaus.
Kurt Reuber, Schöpfer der Madonna von Stalingrad, war Pfarrer, Arzt und Maler. Er wurde 1906 in Kassel geboren und wuchs in pietistischer Frömmigkeit auf, mit der er sich intensiv auseinandersetzte. Durch die Begegnung mit religiösen Sozialisten, die ihm die soziale Lage der Arbeiter erklärten, wurde er kritisch gegenüber seinem bürgerlichen Milieu. Neue Erkenntnisse zur Auslegung der Bibel vermittelte ihm sein theologischer Lehrer, der historisch kritische Neutestamentler Rudolf Bultmann in Marburg. Von Begegnungen mit Albert Schweitzer angeregt, entschloss er sich, nach dem Theologiestudium noch Medizin zu studieren. Als Gegner faschistischer Umtriebe in seiner Gemeinde kam er als Pfarrer gleich 1933 in Konflikte. Seine Predigten wurden abgehört, er wurde bei der Gestapo denunziert, die ihn mehrmals verhörte. Wegen seiner oppositionellen Haltung wurde er bereits 1939 zur Wehrmacht eingezogen und als Truppenarzt im Balkan eingesetzt. Als Seuchenarzt hatte er sehr bald Verbindungen zur Zivilbevölkerung, die wegen seiner Hilfsbereitschaft besonders für kranke und hungernde Kinder Vertrauen zu ihm hatten. Für das Grauen, das er erlebte, fand er keine Sprache. So zeichnete er Bilder gegen den Tod. Er porträtierte Russen, die er als Arzt genauso behandelte wie Deutsche. Für ihn waren sie keine Feinde. Er schrieb in Briefen an seine Frau über die »barbarische Zerstörung« von Kirchen mit wertvollen Ikonen. Er sah täglich das unmenschliche Leiden und Sterben. In der Festung von Stalingrad wurden 1942 200 000 Soldaten eingeschlossen. Sie wurden durch Flugblätter der sowjetischen Heeresleitung aufgefordert, sich zu ergeben, um ihre hoffnungslose Lage zu beenden. Die Zeitung »Roter Stern« berichtete, dass »alle sieben Sekunden ein deutscher Soldat auf russischem Boden im Kampf, durch Hunger, durch Kälte stirbt«. Reuber erlebte, wie Stalingrad zum Massengrab wurde.
Unter diesen, ihn ohnmächtig machenden Eindrücken, malte Kurt Reuber zu Weihnachten 1942 für seine Kameraden auf der Rückseite einer russischen Landkarte mit einem Kohlestift eine Madonna in Erinnerung an das älteste Symbol der Geborgenheit. Sie ist für ihn in ihrer Umhüllung nicht nur Trost und Erinnerung an die Liebe der Mutter, sondern Aufschrei gegen die Schlacht aufgeklärter Menschen, die ihre Menschlichkeit dem Wahn der Macht folgend in das Feuer des Krieges werfen: »Was soll ich dazu noch sagen? Wenn ich unsere Lage bedenke, in der Deutschland sich von Tod und Hass umgeben hat und unsere Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe, die hier verbrennt!«
Das Bild der Madonna wurde am 24. Dezember 1942 an der Bunkerwand angebracht und sollte so zur Predigt in der aussichtslosen Situation für die Soldaten im Kessel von Stalingrad werden.
Reuber demonstriert mit diesem Bild, dass die Botschaft von Frieden für alle Menschen mit dem Krieg ad absurdum geführt wird. In der Hölle von Stalingrad wurde Maria – auch beim Schweigen der Waffen für einige Stunden – erschossen.
Am 20. Januar 1944 starb Kurt Reuber mit 38 Jahren im Gefangenenlager Jelabuga. Seine Kohlezeichnung konnte gerettet und seiner Frau übergeben werden, die sie als persönliche Erinnerung bei sich behielt. Nach ihrem Tod entschieden die Kinder, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie ist jetzt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu sehen. Otto Dibelius widmete dieses Bild den »Opfern des Widerstandes gegen nationalistische Gewaltherrschaft«. Die Gespräche über die Madonna sind nach wie vor lebendig und auch nach 70 Jahren aktuell, zumal ihre Botschaft der »Versöhnung unter den Völkern« auch immer wieder instrumentalisiert wird. So wurde zum Beispiel zum 50. Jahrestag der Zerstörung der Kathedrale von Coventry eine Kopie dieses Bildes als Zeichen der Verbundenheit von Berlin und England übergeben.
Der anglikanische Bischof Christopher Cocksworth hat eine Erklärung dafür, warum ein evangelischer Pfarrer gerade Maria als Motiv seiner Zeichnung wählte. »Die Männer, die dazu getrieben wurden einander umzubringen, sind hier verbunden in der gemeinsamen Erfahrung, eine Mutter zu haben, die ihnen das Leben schenkte.«
In einem Gespräch sagte einmal ein junger Antifaschist zu mir, die deutschen Soldaten hätten das Bild der Roten Armee übergeben und mit seiner Botschaft kapitulieren sollen.