Schreckenstein revisited
5. September 2013
Dachauer KZ-Häftlings-Theater aus dem Jahr 1943 neu
aufgeführt
Sept.-Okt. 2012
Wieder aufgelegt: Die Erinnerungen des »Schreckenstein«-Autors: Rudolf Kalmar, Zeit ohne Gnade, Metroverlag Wien, 272 S., 16,90 Euro
Der Mann rennt die schier endlose Kiesbahn hin und her, wird immer erschöpfter, fällt hin, rappelt sich wieder auf, schreit sich selbst »Auf« und »Ab« zu, reißt seine Mütze vom Kopf, setzt sie wieder auf, bleibt schließlich liegen. Er ist, erfahren wir, der Hausmeister Leopold von der Burg »Schreckenstein« – eine »komische Figur« in einem Spektakel voller »komischer Figuren«. Und er ist zugleich, deutlich zu sehen, einer der geschundenen Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau, das nicht weit vom heutigen Aufführungsort dieses Theaterstückes entfernt liegt.
Die »wohl groteskeste Freilichttheaterpremiere des 20. Jahrhunderts« sei es gewesen, die da am 13. Juni 1943 auf dem »Kleinen Appellplatz« des KZ Dachau stattgefunden habe. Das Vorwort des Programmheftes zur Neuaufführung von »Die Blutnacht auf dem Schreckenstein«, diesmal nicht im Freien, sondern in der Halle einer stillgelegten Papierfabrik, bringt es auf den Punkt. Im Juli 2012 fand diese Neuaufführung statt: »Die Inszenierung«, so das Programmheft, »will die Geschichte der Blutnacht auf dem Schreckenstein, die hier in Dachau unter den Bedingungen des Terrors und der Diktatur entstanden ist, bewusst von Menschen erzählen lassen, die jetzt in Dachau leben. Sie ist der Versuch einer ganz menschlichen und ganz persönlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte dieser Stadt.«
Grotesk schon der gesamte Titel dieses »Dramas«: »Die Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Ritter Adolars Brautfahrt und ihr grausiges Ende oder Die wahre Liebe ist das nicht«. Das klingt gewaltig nach Klamauk – und das sollte es ja damals auch. »Unser Ritterstück war als Lachtheater gedacht«, hielt dessen Verfasser später in seinen Erinnerungen an die Zeit im Lager Dachau fest. »Es wurde, ohne dass wir das eigentlich wollten, zum Gleichnis vom kleinen Geist des großen Reiches.« Dieses vor Häftlingen und Wachpersonal auf die Bühne zu bringen war möglich geworden, weil 1942/1943 mit Blick auf den Kriegsverlauf ein gewisser Strategiewechsel im NS-Mordsystem stattgefunden hatte. Die »Arbeitsproduktivität« der Gefangenen rückte wieder stärker ins Blickfeld. Sie zu steigern, wurden in den Lagern gewisse kulturelle Aktivitäten nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht.
Geschrieben hat das »Blutnacht«-Stück der Wiener Journalist Rudolf Kalmar, der nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 ins KZ Dachau verschleppt wurde. Kalmar nutzte mit Mitgefangenen die Phase reduzierten SS-Terrors, um mit den Mitteln des Theaters Überlebenswillen und Widerstandskraft festigen zu helfen. Wie er waren auch seine am Projekt beteiligten deutschen, österreichischen und tschechischen KZ-Kameraden politische Gefangene -Viktor Matejka etwa, der vormalige Bildungsreferent der Wiener Arbeiterkammer, oder der Schauspieler und Kommunist Erwin Geschonneck, der von 1929 bis 1933 in Berlin erste Theatererfahrungen gesammelt und diese im Exil bis zu seiner Verhaftung beim deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei 1938 ausgebaut hatte.
Vielfach dokumentiert ist, dass es im Sommer 1943 den Machern des Häftlingstheaters tatsächlich gelang, mit dem Gaudistück – Kalmar hatte sich beim Schreiben an den Tiroler Pradler Ritterspielen orientiert, ein komisch-überdrehtes naives Gruselspektakel – ein Werk mit doppeltem Boden zu inszenieren. Als klamaukiges Drama vom SS-Personal wahrgenommen, war es gleichzeitig satirische Zustandsbeschreibung von Lager-Mikro- und »Drittem-Reich«-Makrokosmos. Übereinstimmend wurde später von KZ-Überlebenden berichtet, dass Geschonnecks Hitlerparodien als Ritter Adolar und die vielfältigen sonstigen Bezüge zum NS- und KZ-Alltag bei vielen der Gefangenen »ankamen«. Deren Peiniger wiederum amüsierten sich über die platte Situationskomik.
Vor diesem historischen Hintergrund das Stück neu zu inszenieren, in Dachau zumal und mit Laiendarstellern, zeugt von einer gewaltigen Portion Mut der aus den USA stammenden Dachauer Regisseurin Karen Breece. Wie sich bei den fünf Aufführungsabenden zeigte, zeugte es außerdem von Verantwortungsgefühl, historischer Sensibilität und künstlerischer Souveränität.
Ein Spiel auf vielen Ebenen: dokumentierend, analysierend und für die Gegenwart kommentierend. Mit einfachsten Mitteln führte die Regisseurin die Bezüge zur damaligen KZ-Aufführung vor Augen. Der lange Kiesweg als Lagerstraße, das karge Drumherum zwischen den beiden Zuschauertribünen eine Art Appellplatz. Darauf die hervorragenden Laiendarstellerinnen und -darsteller (bei der »Erstaufführung im KZ Dachau spielten Männer die Frauenrollen), die sich uns eingangs einzeln vorgestellt hatten als heute in Dachau lebende Menschen unterschiedlicher (auch nationaler) Herkunft. Mit kurzen Anmerkungen über ihr jeweiliges Verhältnis zum Heimatort und dessen Geschichte. Dazu aus dem Off Zeitzeugenberichte, historische Querverweise, Gedichte, kongenial eingesetzte Musik…
Ein (nicht nur) theatralisches Ereignis, von dem man sich wünscht, dass es irgendwann einmal wiederholt werden kann und weit über die Region hinaus Resonanz findet.