Unbehagliche Zeitdokumente
11. September 2013
Abituraufsätze der Nazizeit historisch gedeutet
Mit Grausen denken viele ehemalige Abiturienten an den schriftlichen Prüfungsaufsatz Deutsch – und hier besonders an die Aufgabenart » Besinnungsaufsatz« – zurück. Für so manchen von ihnen bedeutete eine mangelhafte Note in diesem Aufgabenteil eine unüberwindbare Hürde für das geplante Studium, in welchem Fachgebiet auch immer.
Bernhard Sauer, selbst Lehrer für Geschichte, Politikwissenschaft und Sport, veröffentlicht hier 16 Prüfungsaufsätze für das Fach Deutsch aus den Jahren 1934-1942, allesamt entstanden am Gymnasium (Berlin) Steglitz, auch Heese-Gymnasium genannt, 1886 als altsprachliches, humanistisches Gymnasium gegründet. Zusammen mit den Prüfungsaufsätzen der jungen Männer werden die Korrekturanmerkungen, die zusammenfassenden Gutachten der Lehrkräfte sowie die abschließenden Bewertungs-Noten publiziert.
Löst schon die Lektüre der zumeist völlig unkritisch geschriebenen, z.T. oberflächlichen und von phrasenhafter Übernahme der faschistischen Ideologie gekennzeichneten Arbeiten großes Unbehagen aus, so wird dieses Unbehagen noch gesteigert durch die sich in Niveau und Machart kaum unterscheidenden Korrekturanmerkungen der Lehrkräfte, die sich mit den Stärken und Schwächen der vorliegenden Arbeiten kaum auseinandersetzen. Das abschließende Urteil wird mit wenigen nichtssagenden Worten »begründet«. Bernhard Sauer stellt zu Recht fest, dass »die Abituraufsätze des Dritten Reiches stark politisiert« sind.
Das wird deutlich, wenn man sich die Prüfungsthemen der Deutsch(!!!)- Aufsätze vor Augen führt:Die Frage »Was hat Hitler für das Deutsche Volk geleistet?« müssen die Prüflinge des Jahres 1934 beantworten. »Wir bauen mit am neuen Reich!«, so lautet das Thema 1936; »Worin findest du die deutschen Kraftquellen in diesem Kriege?« wird 1940 gefragt, und im Prüfungs-Aufsatz von 1942 müssen sich die jungen Männer mit der Forderung »Wir müssen siegen und wir werden siegen!« auseinandersetzen.
»Abituraufsätze im Dritten Reich geben in besonders anschaulicher Weise wieder, was damals gedacht wurde oder gedacht werden sollte. Sie sind ein Spiegelbild der Gesellschaft,…«, führt Sauer in seiner Einleitung aus. Die kritiklose Adaption der NS-Ideologie durch die Prüflinge hat sicher auch mit der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung im Einzugsbereich des Heese-Gymnasiums in Steglitz zu tun. Wir sollten aber (und das sei zugunsten der Prüflinge angemerkt) nicht außer Acht lassen, dass es für diese nicht nur den Anpassungsdruck durch den Nazi-Staat gab. Die Aufgabenart »Besinnungsaufsatz« ließ, wie die vorgestellten Themen verdeutlichen, abweichende Meinungen gar nicht erst zu. Dazu kommt der Anpassungsdruck, dem sich die Prüflinge durch die von ihnen vermutete Erwartungshaltung ihrer Prüflehrkräfte ausgesetzt sahen.
Bernhard Sauer setzt sich mit solchen Fragen in seinen eher knappen einleitenden bzw. abschließenden Anmerkungen kaum auseinander. Stattdessen kommentiert er jeden einzelnen Prüfungsaufsatz sehr ausführlich aus der Sicht des Historikers des Jahres 2012, wobei unberücksichtigt bleibt, dass es sich bei den vorliegenden Texten nicht um Prüfungsaufsätze des Faches Geschichte, sondern des Faches Deutsch handelt. Dennoch sind die mit einem großen Anmerkungsapparat versehenen Ausführungen zumeist hilfreich. Häufig greift Sauer Stichworte oder zentrale Begriffe aus den Arbeiten auf, erläutert diese und versieht sie mit umfangreichen Zitaten aus Quellen des deutschen Faschismus, etwa Hitlers »Mein Kampf«, oder aus der Sekundärliteratur, die dem historisch nicht so bewanderten Leser eine bessere Einordnung ermöglichen.
Die Publizierung der Prüfungsaufsätze ist ohne Zweifel hochinteressant und auch verdienstvoll. Wichtige Fragen aber bleiben, wie Sauer selbst anmerkt, offen und bieten der Historikerzunft wie der Pädagogik noch ein großes Untersuchungsfeld.
Wenig verwunderlich ist, dass junge Prüflinge während der faschistischen Diktatur deren wichtige Ideologeme übernehmen und diese in ihren Arbeiten entsprechend darstellen. Wie aber ist es möglich, dass deren Lehrkräfte Abiturthemen wie die oben zitierten im Rahmen des Faches Deutsch unkritisch einsetzen? Wie ist es möglich, dass kurze, phrasenhafte oder kaum begründete Gutachten wie die in der vorliegenden Arbeit dargestellten über das Bestehen der Abiturprüfung entscheiden?
Immerhin hat die ständige Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) seit einigen Jahrzehnten dafür Sorge getragen, dass im Fach Deutsch die textgebundene Interpretation oder die textgebundene Erörterung zu den schriftlichen Prüfungsbestandteilen im Fach Deutsch zählen. Der alte Besinnungsaufsatz, eher ein Gesinnungsaufsatz, ist der Erörterung gewichen, in der ein eigener Standpunkt zu einer Fragestellung gefunden und argumentativ dargelegt werden soll.