Der andere Blick
1. März 2015
Regina Scheers Roman über ein Dorf in Deutschland
Mehrere Jahre schrieb Regina Scheer an »Machandel«. Nun liegt ihr erster Roman vor. Machandel ist der plattdeutsche Name für Wacholder. Regina Scheer legt die uralte Geschichte vom Machandelbaum unter ihre Erzählung. Es ist das grausige Grimmsche Märchen, in dem Marlene die Knochen ihres Bruders unterm Machandelbaum vergräbt. Der verwilderte Garten im Phantasiedorf Machandel in der mecklenburgischen Schweiz bringt im Roman die verschiedenen Schicksale eines Jahrhunderts in dieses Dorf zusammen, in dem gleich fünf Ich-Erzählerstimmen ihre Geschichte erzählen. Unter dem Machandelbaum schwingt die Wehmut über die Opfer der Vergangenheit und zugleich die Hoffnung, dass aus dem Zusammentragen der Schicksale wie im Märchen vom Machandelbaum Neues entsteht. Bei jedem Besuch in Machandel wird deutlich, dass die Protagonistin des Romans Clara auf ihre Wurzeln stößt und der Heimatort zum Ort der Begegnung wird – mit der deutschen Vergangenheit, der eigenen Familiengeschichte und sich selbst. Die Heilkraft der Machandel steht stellvertretend für Erinnerung. Genau das versucht Regina Scheers Roman mit Geschichten, die so detailreich und verwoben sind, dass sich darin erkennbar ein Stück jüngere Geschichte widerspiegelt.
Dieses Buch ist ein Jahrhundertroman über den Osten, wie ihn schon Uwe Tellkamp mit dem »Turm« oder Eugen Ruge mit »In Zeiten des abnehmenden Lichts« geschrieben haben, aber diesmal von einer Frau verfasst. Ein Roman, der es schwer hatte, einen Verlag zu finden, zu Unrecht bisher kaum im Literaturgeschehen gewürdigt wird, vielleicht weil er einen anderen Blick auf unsere Geschichte wagt. Dieser Blick ist nicht denunziatorisch. Er belässt die Erzähler in ihrer Wahrnehmung, ihren Idealen und Vorstellungen und entfacht in den Familiengeschichten ein ganzes Bündel von Widersprüchen, die wir zu kennen glauben.
Die Haupterzählerin Clara, Jahrgang 1960, forscht zum Machandel-Motiv, findet darin den Traum und Sinn ihres Lebens und findet ihre Herkunft nach und nach mit dem Dorf in der mecklenburgischen Schweiz verbunden. Der kommunistische Vater kam auf dem Todesmarsch vom KZ Sachsenhausen hierher durch seinen tschechischen Mithäftling, dessen Ermordung er nach einem späteren stalinistischen Prozess hinnimmt. Im Ort wohnt auch die Smolensker Zwangsarbeiterin Natalja, die ihre Eltern mit 14 Jahren im Stalinismusdickicht verliert, nach dem Krieg bleibt und nun in Machandel mit ihrem Kind Lena eine neue Heimat findet. Grigori, Vater des Kindes, kommt nach dem Krieg ins Lager, weil er sich als Offizier der Roten Armee nicht den Nazis ergeben durfte. Herbert, der Freund von Claras Bruder, in den Frühzeiten der DDR Kadett in Naumburg, wird Lebensgefährte von Lena, der Tochter Nataljas. Sie, die Schweigsame, fährt mit dem Bücherbus durchs Land und findet nach dem Tod ihrer Mutter den Vater wieder, der nach der Wende mit seiner Familie als Jude nach Deutschland kommt. Der Aufseher Wilhelm aus Machandel scheint in allen Systemen zu Recht zu kommen. Der Nazi-Anhänger missbraucht nicht nur Jugendliche im Dorf. Um sich seines Opfers Marlene zu entledigen, denunziert er es als unwertes Leben, das dann auch auf dem Schweriner Sachsenberg sein mörderisches Ende findet. Nach dem Krieg findet er rasch neue Verwendung bei den Mächtigen. Neben den Geschichten der Elterngeneration erscheinen die der Kinder, von denen sich mancher der Opposition zuwendet, das Land verlässt. Der Sohn des Sachsenhausenhäftlings und späteren Ministers entdeckt für sich die Fotografie, um zu erfahren, dass er einen guten Blick für die Fotografie aber nicht für den Inhalt habe. Die Gründe, die Motive, die Argumente, die Entscheidungen der Beteiligten werden unbewertet offengelegt, zugleich authentisch, erfrischend offen und hin und wieder beklemmend. Das Buch ist keine Aufarbeitungsgeschichte, sondern ein weltoffenes Buch, das in einem vergessenen kleinen Dorf Geschichten und zugleich Weltgeschichte erzählt, die Geschichte eines vergangenen Jahrhunderts, die bereits heute vielen schon so fremd erscheint. Regina Scheer hat mit ihrem Debütroman ein berührendes Zeitdokument vorgelegt und mit ihm Geschichte aus dem letzten Jahrhundert nahehebracht.