Ein Workshop in Minsk
3. Juli 2015
Wissenschaftlicher Austausch über »Besatzung-Zwangsarbeit-Vernichtung«
Seit 1994 finden sich fortgeschrittene Studierende, Promovierende und andere Wissenschaftstreibende regelmäßig zum Workshop zur Geschichte und Gedächtnisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager zusammen, um an der Schnittstelle zwischen Wissenschafts- und Gedenkstättenpraxis neue wissenschaftliche Ansätze und aktuelle Forschungen aus verschiedenen Fachrichtungen zu diskutieren. Der Workshop wird von den Teilnehmenden selbst organisiert und hat den Charakter einer Forschungswerkstatt, in der sich Wissenschaftstreibende und Gedenkstättenmitarbeiterinnen in kollegialer und kooperativer Atmosphäre fächerübergreifend austauschen. Dazu stellen etwa ein Dutzend Teilnehmende ihre Forschungsarbeiten zur Debatte. Des Weiteren werden eine oder mehrere Gedenkstätten besucht, um mit den dortigen Mitarbeitern deren pädagogisch-wissenschaftliche Ansätze zu diskutieren.
Der diesjährige 20. Workshop trug den Titel Besatzung – Zwangsarbeit – Vernichtung. Ausgehend von der Geschichte der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft sollten die Hintergründe und Folgen dieser Politik für die deutsch besetzten Länder diskutiert sowie ein transnationaler Wissenstransfer angeregt werden. Anlässlich des 70. Jahrestages des Endes der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft fand der Workshop in Minsk, Belarus, und damit in einem Land statt, welches von den Folgen der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik besonders betroffen war.
Der Berliner Verein Kontakte-Kontakty e.V. und das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin unterstützten das aus den Teilnehmenden des letztjährigen Workshops gewählte Organisationsteam wissenschaftlich und logistisch. In Minsk kooperierte der Workshop mit der halbstaatlichen Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte »Johannes Rau« (IBB) sowie der regierungsunabhängigen Geschichtswerkstatt Minsk, einem Ausstellungs- und Begegnungszentrum zur Geschichte der Shoah in Belarus auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos.
Das Ziel, neue Forschungsansätze zu diskutieren und einen internationalen wissenschaftlichen Transfer anzuregen, erreichte der Workshop erfolgreich. Unter den Teilnehmenden aus Belarus, Holland, Deutschland, Russland, Frankreich und Österreich entstand eine intime Atmosphäre. Diskussionen und fachlicher Austausch wurden während der Pausen und Mahlzeiten und oft bis in die frühen Morgenstunden bei erstklassigem belarussischem Wodka fortgesetzt. Man beleuchtete Dimensionen und neue Aspekte von genozidaler deutscher Kriegführung gegen die sowjetische Zivilbevölkerung und von Zwangsarbeit in den besetzten Territorien sowie im »Altreich«. Die in »West« und »Ost« unterschiedlichen Ansätze prallten in fruchtbarer Diskussion aufeinander und wurden gemeinsam neu gedacht. Man stellte fest, dass der Lagerbegriff der klassischen (deutschen), sich häufig kritisch verstehenden KZ-Forschung mit der osteuropäischen Terminologie und Opferperspektive inkongruent ist. So werden in westeuropäischen und deutschen Forschungen »camps« wie Osaritschi – von der Wehrmacht eingerichtete »Sterbelager« zum Zweck, den Vormarsch der Roten Armee zu verzögern – etwas stiefmütterlich unter »Rückzugsverbrechen« subsumiert. Die deutsche Öffentlichkeit nahm und nimmt von diesen Lagern keine Notiz, während sie in Osteuropa gedenkpolitisch und wissenschaftlich unter der Bezeichnung KZ firmieren und große erinnerungskulturelle Bedeutung haben. Die Brisanz liegt hier nicht in terminologischen Spitzfindigkeiten, sondern in den (erkenntnis)theoretischen sowie gedenk- und entschädigungspolitischen Konsequenzen.
Die Exkursionen zu den Gedenkstätten Khatyn, Ghetto Minsk, Maly Trostenez und Blagowtschina (Mordstätte in Waldstück nahe Maly Trostenez) waren in historischer und gedenkpolitischer Hinsicht interessant. Es war dem Organisationsteam gelungen, zur in Entstehung begriffenen Gedenkstätte Maly Trostenez die staatlich beauftragte Chef-Architektin und auch Gallina Lewin, die Tochter des belarussisch-jüdischen Gedenkstätten-Architekten Leonid Lewin für ein Gespräch zu gewinnen. So entsteht am Ort des ehemaligen KZ Maly Trostenez eine zentrale nationale Gedenkstätte mit staatlichen Geldern. Die Blagowtschina allerdings – ein Tatort der Shoah an dem die Deutschen mehrere zehntausend Jüdinnen und Juden töteten – ist aber nur auf Druck »von unten« in dieses Konzept einzubinden. Die laufenden gedenkpolitischen Auseinandersetzungen, der problematische Umgang mit der Shoah und die politischen Gepflogenheiten einer postsowjetisch-prowestlichen-staatskapitalistischen Diktatur waren an diesen und anderen Stellen eindrücklich wahrnehmbar.
Ob sich eine Begegnung mit NS-Verfolgten auch auf dem kommenden Workshop wird organisieren lassen? Es bleibt zu hoffen, denn nächstes Jahr findet der 21. Workshop unter der Ägide eines neuen Organisationsteams in Frankreich zum Themenschwerpunkt Kollaboration statt.