Der letzte Zeuge
1. März 2016
Zum Tod von Samuel Willenberg
Mit Samuel Willenberg starb am 19. Februar im Alter von 93 Jahren der letzte Überlebende des Vernichtungslagers Treblinka. Damit endet die konkrete Erinnerung an eine der furchtbarsten Einrichtungen, die von Deutschen erdacht und bis zum bitteren Ende in Funktion gehalten wurden. Gleichwohl ist sie im Land der Erinnerungsweltmeister genauso weitgehend unbekannt wie Sobibor und Belzec, die anderen Vernichtungsstätten der unter dem Namen »Aktion Reinhard« betriebenen Einrichtungen zur Ausrottung aller Jüdinnen und Juden Polens. Dies fällt besonders im Kontrast zu »Auschwitz« auf, einem Ort, den jeder kennt (wirklich?), über den es eine riesige Menge Literatur gibt und der jährlich von Hunderttausenden aufgesucht wird. Eine der Gründe dafür ist, dass es Tausende von Menschen gegeben hat, die Ausschwitz überlebt haben, aber nur eine winzige Anzahl, die Treblinka von innen gesehen haben und danach noch darüber berichten konnten. Eine »Lagergemeinschaft Treblinka« hat es nie gegeben und konnte es auch nicht geben, denn Treblinka war überhaupt kein Lager, sondern in noch größerer Reinheit als Auschwitz die Inkarnation des unbedingten Vernichtungswillens, eine reine Mordstätte. Willenberg gehörte als Jugendlicher zu denjenigen, die die Begleitbeute der sofortigen Ermordung zu sammeln, sortieren, aufzubereiten und verpacken zu hatten. Dass er davon berichten konnte, verdankt sich einem Aufstand 1943, in dessen Verlauf er fliehen konnte. An der planmäßigen »Abwicklung« Treblinkas konnte der Aufstand nichts ändern. Nach dem Abschluss der »Aktion« wurde die Stätte abgebaut und Tarnmaßnahmen durchgeführt.
Außer den wenigen Dutzend Überlebenden konnte nur eine ebenso kleine Gruppe von Tätern Auskunft erteilen. An deren Spitze stand der ehemalige Kommandant Franz Stangl, den die englische Journalistin Gitta Sereny 1971 ausführlich in der Haft interviewte und dessen Werdegang vom kleinen österreichischen Polizeibeamten zum akribischen Administrator des Massenmordes sie in »Into that darkness« recherchiert hat. Liest man Sereny, Willenbergs »Revolte in Treblinka« und Richard Glazars »Die grüne Falle«, meint man nahezu jeden mit Namen zu kennen, der an den Massenmorden entweder beteiligt war oder zwangsweise ihr Zeuge wurde.
Über lange Jahre gab es auf dem Buchmarkt kein einziges deutschsprachiges Werk zu diesem Thema. Willenberg habe ich über eine in Warschau erschienene englischsprachige Ausgabe seines 1986 erschienen Buches kennengelernt, erworben an einem Kiosk in der menschenleeren Gedenkstätte Treblinka. Es ist, wie Semprun es ausgedrückt hat, ein »Schreiben das zum Tode zurückführt«. Man möchte es eigentlich gar nicht haben, nicht lesen, sich nicht an die Lektüre erinnern und man möchte, dass sein Inhalt nur ausgedacht oder reiner Wahn ist. Das Erschütterndste an diesem erschütternden Werk ist die Tatsache, dass Willenberg ihm seine persönliche Adresse und Telefonnummer voranstellte. Man kennt das höchstens aus akademischen Zirkeln– der Autor gibt seine E-Mail-Adresse an, um die Bereitschaft mitzuteilen, dass er zu irgendwelchen abgelegenen Themen weitere Auskünfte erteilen oder Diskussionen zu führen bereit ist.
Für Willenberg war die israelische Adresse zum einen der Ausdruck von Zugehörigkeit und nach vorn gerichteter Ortsfestigkeit, als auch das Signal, dass man ihn ansprechen könne. Aber wen mag er damit gemeint haben? Die englischsprachige Fassung, im Latein von heute, war ein Angebot an die ganze Welt. Natürlich habe ich ihn nie angerufen. Was hätte man und in welcher Sprache hätte man es sagen sollen? Willenberg hat mit vielen Menschen gesprochen, er war oft mit Gruppen in Treblinka. Für die anderen schrieb er sein Buch. Für optisch ausgerichtete Menschen zeichnete er einen Lageplan von Treblinka. Und dann wurde er im Alter auch noch Bildhauer. Seine Skulpturen wurden unter dem Titel »Die Kunst der Erinnerung« auch in deutschen Städten ausgestellt.
Seit 2009 gibt es dank des Münsteraner Unrast-Verlages Willenbergs »Revolte in Treblinka« endlich auch auf Deutsch. Auch Glazars Buch wurde von ihnen neu herausgebracht. 2014 erschien zudem »Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944-1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission« mit dem allerersten Bericht, den ein Geflohener überhaupt über Treblinka verfasst hat.
Willenberg hat sein unwahrscheinliches und langes Leben genutzt, damit Israelis, Polen und besonders auch Deutsche eine Ahnung davon haben können, was Treblinka gewesen ist. Die Telefonnummer ist jetzt obsolet, aber sein Werk ist es nicht.