Verfolgungsfreie Staaten?
6. März 2016
Ein antifa-Gespräch mit dem Völkerrechtler Prof. Dr. Norman Paech
antifa: Im Oktober 2015 sind mit Kosovo und Montenegro die letzten beiden Zerfalls-Staaten der ehemaligen Republik Jugoslawien sowie Albanien zu »sicheren Herkunftsländern« von Geflüchteten erklärt worden. Betroffen sind weit überwiegend Roma. Du kommst in einem Gutachten, dass Du für die europäische Rom und Cinti Union verfasst hast zu dem Schluss, dass das Gesetz verfassungswidrig ist. Warum?
Norman Paech: Zunächst hat das Gesetz eine doppelt umstrittene und unrühmliche Geschichte. Es basiert auf der heftig umkämpften aber schließlich von CDU/CSU, FDP und SPD im Mai 1993 durchgesetzten Änderung des Artikels 16 GG, die als »Asylkompromiss« verharmlost wird, tatsächlich aber die weitgehende Aufhebung des Asylrechts ermöglichte. In dem neu eingefügten Art. 16 a GG eröffnet Absatz 3 dem Gesetzgeber die Möglichkeit, Herkunftsstaaten zu bestimmen, » bei denen gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet«. Damit sollte nicht nur dem Missbrauch vorgebeugt werden, sondern jede Form des Asyls sollte verhindert, zumindest erschwert werden. Das war ein direkter Angriff auf die Substanz des deutschen Asylrechts.
antifa: Schon jetzt ist die Anerkennungsquote für Roma sowohl bei dem »Bundesamt für Migration und Flüchtlinge« (BAMF) wie auch bei den Verwaltungsgerichten sehr gering …
Norman Paech: Dies hängt mit den ewigen Stereotypen über Roma und einem Mangel der rechtlichen Würdigung der Herkunftsstaaten zusammen. Daran krankten auch schon Beratung und Verabschiedung des Gesetzes, mit dem im November 2014 Bosnien-Herzegowina, Serbien und Mazedonien zu »sicheren Herkunftsländern« erklärt wurden. Im herkömmlichen juristischen Verständnis wird »politische Verfolgung« und »unmenschliche, erniedrigende Behandlung« als Asylgrund im Sinne des Art. 16 GG nur bei staatlicher Verfolgung angenommen. Seit einigen Jahren gibt es hier jedoch Veränderungen. Mit zwei Richtlinien aus den Jahren 2011 und 2013 hat die EU den Begriff der Verfolgung erweitert und der Bundesgesetzgeber hat ihn in § 3 a Asylgesetz übernommen. Seitdem begründet nicht nur staatliche Verfolgung den Anspruch auf Asyl, sondern auch eine Verfolgung von privaten Dritten ohne Verbindung zum Staat. Die Verletzung von Menschenrechten erfasst dabei auch die sozialen und ökonomischen Menschenrechte. Und schließlich können auch einzelne Maßnahmen oder Situationen wie Diskriminierung, Repressalien, Beeinträchtigungen und Demütigungen eine Verfolgung begründen, wenn sie zu einem Zustand kumulieren, der für den Betroffenen so unerträglich ist, dass er sich ihnen nur noch durch die Flucht entziehen kann. Diese sog. kumulative oder auch strukturelle Verfolgung ist bei dem vielfach bezeugten und verbreiteten Antiziganismus und Rassismus gegenüber den Roma der Hauptfluchtgrund.
antifa: Trotzdem werden neu ankommende Roma in speziellen »Rückführungseinrichtungen« wie dem »Balkanzentrum« in Bamberg einquartiert, von wo aus sie schnellstmöglich ohne individuelles Asylverfahren wieder abgeschoben werden sollen …
Norman Paech: Der Bundestag hat mit dem Gesetz den Ausländerbehörden die Einzelentscheidung über die Verfolgung abgenommen und generell die Staaten für verfolgungsfrei erklärt. Das konnte er auf Grund der Ermächtigung des Art. 16 a Abs. 3 GG, musste dafür aber »gute Gründe« ins Feld führen, wie das Bundesverfassungsgericht 19963 entschieden hat. Es forderte eine »umfassende detaillierte Tatsachenanalyse«, die Heranziehung aller »zugänglichen und zuverlässigen Quellen« und ein »bestimmtes Maß an Sorgfalt«, die mit der Erweiterung des Verfolgungsbegriffs durch die beiden Richtlinien der EU sich noch einmal vergrößert hat.
Diese Sorgfalt bei der Analyse der Herkunftsstaaten lassen Bundesregierung und Bundesrat jedoch vollkommen vermissen. Denn dann hätten sie sich tatsächlich mit den zahlreichen überaus kritischen Berichten über die Länder durch die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, den EU-Ministerrat, den Menschenrechtskommissar, das Komitee für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die Parlamentarische Versammlung des Europarates, der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, das United Nations Development Program, das Kinderhilfswerk UNICEF bis hin zum U.S. Department of State Bureau of Democracy etc. auseinandersetzen müssen. Alle diese Materialien zeichnen ein Bild von der Situation der Roma in diesen Ländern, die nach den Kriterien der EU-Richtlinien nur als »strukturelle Verfolgung« gewertet werden können. Schon die vollkommen mangelhafte Prüfung und Aus-einandersetzung im Gesetzgebungsprozess mit den zahlreichen Kritiken, die der Erklärung zu sicheren Herkunftsstaaten eindeutig widersprechen, machen dieses Gesetz verfassungswidrig. Es muss aufgehoben werden.
Die Fragen stelle Cornelia Kerth