Resonanzen zum VVN-Bundeskongress
7. September 2016
Spannende Projekte, neue Signale
Einen sehr guten Einstieg in den Bundeskongress gab Ulrich Schneider mit seinem Referat über »Anforderungen an antifaschistische Geschichtspolitik aus heutiger Perspektive«. Im Gedächtnis geblieben sind mir besonders seine Überlegungen, dass die Geschichte der Flüchtlinge aus Deutschland während der NS-Zeit und ihre Erfahrungen im Exil sowie das Problem der Ethnisierung des Sozialen als Form des Rassismus Themen sind, die in die heutigen politischen Auseinandersetzungen nutzvoll eingebracht werden können. Beim World-Café am Samstag Vormittag nahm ich an zwei Diskussionsgruppen teil. Beim Thema »Jugendgerechte Formen der Erinnerungsarbeit« kam nicht viel Neues, vielleicht war die halbe Stunde dafür zu kurz. Immerhin: Die Idee, mal einen Infostand ganz wo anders – z.B. am Weg zu einem Open-Air-Rock-Konzert – zu machen, müsste ausprobiert werden.
Die zweite und dritte halbe Stunde blieb ich beim Thema »Gedenkarbeit in der Migrationsgesellschaft«. Unisono stellten wir fest, dass die Mitgliedschaft der VVN-BdA in keiner Weise die Zusammensetzung der Bevölkerung widerspiegelt und dass wir es schaffen müssen, Zugänge auch für Migranten zu ebnen. Das könnten z.B. gemeinsame/unterschiedliche Erfahrungen des Exils sein. Hervorgehoben wurde, dass Migranten nicht als Adressaten unserer überlegenen Weisheit, sondern als Menschen mit eigenen Erfahrungen und als gleichberechtigte Mitkämpfer/innen angesprochen werden müssen. Als Signal, dass nicht nur »deutschstämmige Deutsche« gemeint sind, könnten englischsprachige Zusammenfassungen von Flyer-Texten etc. dienen.
Sehr spannend war die Vorstellung von Projekten anderer Landes- und Kreisverbände am Samstag Nachmittag. Davon inspiriert, sprudelten bei der Diskussion in unserer »Regionalgruppe Bayern« am Sonntag Ideen, was wir zum 70. Jahrestag der Gründung der VVN im nächsten Jahr machen können. Wobei wir schon jetzt in der Vorbereitung die Empfehlung von Uli Schneider in die Tat umsetzen wollen, in der Geschichtsarbeit nicht nur auf die »alten Hasen« zu setzen, sondern neue Mitstreiter einzubeziehen.
Renate Hennecke, München
Eine richtige Idee, ein Teilerfolg, ein wichtiger Anfang
Es war richtig, unser Kernthema »Geschichtspolitik und Erinnerungsarbeit« im Rahmen eines Kongresses und nicht bei einer unverbindlichen Konferenz zu behandeln. Die anwesenden etwa 90 Kamerad/-innen arbeiteten intensiv. So mancher geistige Funke sprang über, konkrete Projektideen entstanden.
Doch bei vielen Kamerad/-innen wurde der Ruf zum Kongress anscheinend nicht gehört, oder ihm konnte nicht gefolgt werden. Etwa ein Drittel der gewählten, verantwortlichen Delegierten fehlte, darunter ganze Landesverbände und wichtige, große Kreisvereinigungen: Ein Zeichen der zunehmenden Strukturschwäche unserer Reihen, ja, aber vielleicht auch Auswirkung eines traditionellen Verständnisses, wonach ein Arbeitstreffen ohne Wahlen, Resolutionen und Entschließungen nicht als vollwertiger Kongress gilt.
Die Abwesenden wurden schmerzlich vermisst, und sie sind auch ein wenig zu bedauern um das, was sie verpasst haben. Aus der Fülle wichtiger Diskussionen sei eine beispielhaft herausgegriffen, und zwar die um Erinnerungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Wie verhalten wir uns dazu, dass es auch in migrantischen Milieus vielfältige Formen von rassistischer Ideologie und Diskriminierung, von Verachtung gegenüber Frauen und Hass auf sexuelle Minderheiten gibt? Was tun wir gegen einen unter muslimischen Jugendlichen weit verbreiteten Antisemitismus, bei dem aber auch eigene oder familiär tradierte Gewalterfahrungen aus Kriegen und Konflikten mit israelischer oder US-amerikanischer Beteiligung eine Rolle spielen können? Wie stellen wir uns zu antidemokratischen Haltungen, wie sie etwa in AKP-nahen türkischstämmigen Milieus verbreitet sind?
Die Diskussion zeigte, wie verschieden die Positionen innerhalb der VVN-BdA sind und wie sehr wir erst am Anfang einer dringend notwendigen Diskussion und Selbstqualifizierung zu diesen Themen stehen. Aber es wurden auch mögliche große Linien der eigenen Arbeit sichtbar:
I. Wir gehen von einer grundsätzlichen emanzipatorischen Orientierung an den Menschenrechten und der Demokratie aus. Unser Ansatz ist global und universell, so wie es der Kampf der internationalen antifaschistischen Widerstandsbewegung war.
II. Menschen mit Migrationshintergrund sind keine Adressat/-innen, keine »Zielgruppe« unserer Arbeit, sondern Partner/-innen und Mitstreiter/-innen.
III. Wir sollten zugehen auf die, die uns ohnehin nahe sind: Die vielen antifaschistischen, demokratischen, an den Menschenrechten orientierten Gruppen und Einzelpersonen mit Zuwanderungsgeschichte. Das müssen nicht immer unbedingt nur die erklärtermaßen linken und säkularen Milieus sein, aber es wird sich auch kaum um religiös-fundamentalistische oder ultranationalistische Kreise handeln.
Hoffen wir, dass diese und andere notwendige Diskussionen auf Bundes- und Länderebene jetzt weitergeführt werden!
Mathias Wörsching, Berlin
Zeugen der Zeitzeugen
71 Jahre nach der Befreiung von Krieg und Faschismus und 17 Jahre nach Beginn der neuen deutschen Kriegseinsätze ist und bleibt es notwendig, den Blick und die Deutung der Geschichte aus der Perspektive des Widerstands gegen Krieg und Faschismus zu bewahren und weiter zu entwickeln. Die Verantwortung dafür liegt jetzt bei den Zeugen der Zeitzeugen. Dabei sind auch methodische Fragen der Vermittlung zu klären. Diese Konferenz widmete sich diesen Fragen auch mit methodisch neuen Ansätzen. Und sie gab praktische Anregungen zu einem vielfältigen und modernen antifaschistischen Gedenken vor Ort.
Jochen Vogler, NRW