Steine, die diskriminieren
7. September 2016
Kritik an einer Stolperstein-Praxis, die Stigmatisierungen fortschreibt
Stolpersteine sind überall bekannt. Sie sind aber auch umstritten – nicht nur in der Bundesrepublik. Nicht allein das privatisierte Gedenken erzeugt Unbehagen. Sondern vor allem die Abweichung vom ursprünglichen Konzept: Bislang beschränkte sich die Abbildung auf die Stammdaten der zu gedenkenden Person. Seit 2013 finden sich auf den Steinen, Begriffe wie »Rassenschande«, »Gewohnheitsverbrecher«, »Volksschädling«. Gründe für diese Neuschöpfungen wurden vom Künstler nicht genannt.
Die Steine sollen Instrumente des Gedenkens und Erinnerns sein, und nicht der posthumen Stigmatisierung, Schmähung und Verunglimpfung. Immerhin geht es um den verantwortungsbewussten Umgang mit dem Ruf der Toten.
Als Arbeitskreis »Marginalisierte-gestern und heute!« befassen wir uns mit diesen Personenkreisen. Wir betrachten jeden Einzelfall konkret. Wir stellen immer wieder fest, dass diese Menschen keine Möglichkeit hatten, in der Zeit der Weimarer Republik und dem deutschen Faschismus anders zu leben als sie dann tatsächlich lebten. Denn sie lebten unter dem Reichsstrafgesetzbuch (1871), der Reichsfürsorge-VO (1924), dem Erbgesundheitsgesetz (1933), den Maßregeln über Sicherung und Besserung (1933) sowie dem Gesetz zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung (1937). Im Kontext dieser Gesetze wurden die Stigmatisierungen aus der Weimarer Republik aggregiert, verfestigt und konzentriert zu Strafverfolgungsgründen gemacht.
In den Karteien der Erwerbslosenfürsorge in den 1920er Jahren wurden wiederholt abwertende, diffamierende Einschätzungen der Mitarbeiter der Erwerbslosenfürsorge über Erwerbslose aufgenommen. Nach 1933 führte diese Betrachtungen zur begrifflichen Clusterung. Begriffe wie »asozial«, » unterhaltssäumig«, »arbeitsscheu« erschienen auf den Karteikartenreitern. Erwerbslosen die als »arbeitsscheu« galten, wurde damit gleichzeitig ein »innewohnender Hang zum Verbrechen« unterstellt. »Asoziale« wurden zum »Volksfeind« im Inneren der »Volksgemeinschaft« gemacht und sollten »ausgemerzt« werden.
Bis heute stehen auch die Kinder der damals so genannten Asozialen namentlich in den Akten des Hitlerregimes. Vernichtet sind diese Akten bis heute nicht. Der Forderung nach Löschung der Namen der Kinder wird nicht nachgekommen. Elvira Manthey hatte die Namenslöschung ihrer Tochter verlangt. Elvira war vier Jahre alt, als sie als »asoziales« Kind in ein behördliches Kinderheim geriet und miterleben musste, dass ihre zweijährige kleine Schwester vergast wurde.
Nach 1945 wurden die aus sozialen und gesundheitlichen Gründen verfolgten Menschen nicht als »Opfer des Faschismus« anerkannt. Sie wurden weder rehabilitiert, noch in größerem Umfang für Deportation, Folter, Qualen, Gesundheitsschäden, Zwangssterilisationen, Zwangsarbeit oder Haft in KZ, Psychiatrien, Kinder- und Pflegeheimen, Arbeiterkolonien usw. entschädigt.
Die Kinder dieser Verfolgten – die second generation – wird mit derartigen Inschriften auf Stolpersteinen ein weiteres Mal verletzt und geschädigt. Meist über die rechtsradikalen Entwicklungen entsetzt, sind sie genauso fassungslos, wenn ihre Angehörigen mit faschistischen (Schuld-)Zuschreibungen in der Öffentlichkeit stehen. Das ist jenseits jeglicher Pietät. Angehörige selbst werden in die Abwertungsprozesse ihrer Vorfahren einbezogen. Sie werden für das Tun der Toten haftbar gemacht. Es greift in ihr Leben ein, wenn auf dem Stolperstein steht, dass die Oma »Gewohnheitsverbrecherin« war. Es beschädigt ihren Ruf und ihre soziale Einbindung: Denn noch heute glaubt die Mehrzahl der Menschen, dass da »schon was dran gewesen sein muss«, dass solches Verhalten »in den Genen liegt« und die »Schande« bleibt.
Als Antifaschistinnen stellen wir eine derartige Diskreditierung von Toten in Abrede.
Außerdem taucht die Frage auf, wieso denn, wie bei übrigen Opfergruppen, nicht nach Angehörigen geforscht wird. Denn eigentlich entscheiden die, ob sie überhaupt diese Art des Gedenkens wollen.
Warum passiert so etwas überhaupt? Weil die Geschehnisse um diese Personenkreise bis heute nicht hinreichend aufgearbeitet sind. Weder die DDR noch der bundesdeutsche Staat hatten daran ein gesteigertes Interesse. Denn die sozialrassistische Stigmatisierung wird noch heute als Abschreckung benutzt und wirkt weiter. Sie rechtfertigt Einsparungen und Sanktionen für bedürftige Menschen, wie sie gerade wieder im Rechtsvereinfachungsgesetz für Arbeitslosengeld-II-Berechtige geplant sind.
Zukünftig dürfen keine Stolpersteine mit stigmatisierenden Inhalten mehr verlegt werden. Bereits gelegte Steine müssen rückgebaut und verändert werden. Die Suche nach und die Verständigung mit Angehörigen sollte im Vordergrund stehen.
»Kunst« gibt es nicht um ihrer selbst willen. »Kunst« ist niemals neutral. Sie ergreift immer Partei. Das ist bei Kunsthandwerk genauso.