Das Leben von Seka und Ado
4. Mai 2017
Eine antifaschistische Familie in den Kämpfen des 20. Jahrhunderts
»Vor Ado zeigen sich die Tiere.« Vom Titel-Krokodil, das einst eine Rolle spielte, als der Vater der Autorin im jugoslawischen Exil der 30er-Jahre die junge Seka aus Sarajevo kennenlernte, bis zur Schlange, die er nach überstandener Flucht aus einem Außenlager des KZ Buchenwald am Strand von Ahrenshoop den Kindern präsentiert, und schließlich den Krokodilen im Leipziger Zoo, vor deren Gehege er, 60 Jahre alt, tot zusammenbricht, kreucht und fleucht allerlei durch diesen ungewöhnlichen Familienroman.
In acht Kapiteln, aufgeteilt in 120 Episoden, lernen wir das Leben von Seka und Ado von Achenbach kennen, beginnend mit Sekas Geburt im April 1917. Ein »Revolutionsjahr«, auch in Bosnien. Das Umfeld, in dem das Mädchen auf die Welt kommt, allerdings ist konservativ: »gehobene« großbürgerliche und -bäuerliche Verhältnisse.
Aus diesen drängt es sie bald hinaus, ins weltläufigere Zagreb. 1938 darf Seka als junge Journalistin für das dortige Abendblatt den doppelt so alten, vor den Nazis nach Jugoslawien emigrierten deutschen Adelsspross Ado von Achenbach interviewen, den Theatermann, Bohemien, einstigen Räterevolutionär. Prompt funkt es. Obwohl bereits einem Fabrikerben versprochen, stürzt sich Seka in die neue Beziehung, ebenso wie Ado, der schon eine Ehe hinter sich hat. Es wird geheiratet, die Tochter Marina kommt 1939 auf die Welt, wenige Jahre später folgt Sohn Andreas.
»Über viele Jahre«, schreibt die Autorin, »bewahre ich ein erfundenes Bild in mir und lasse es durch nichts antasten: Da sehe ich Ado und Seka mit dem neugeborenen Andreas im Arm vor dem Radio stehen und die Nachricht vom deutschen Überfall auf Jugoslawien hören. Ich habe sein Auf-die-Welt-kommen und den Krieg nicht zusammen denken können. Damit habe ich meine Vorstellung von Ado und Seka geschützt, als hätten sie immer ihre Gegenwart erkannt und bewusst gehandelt. Als hätten sie nicht im Krieg gelebt wie fast alle, zeitwillig erblindet, unentwirrbar mit dem Alltag verwoben, der nie aufhört. Den jüngeren Bruder aber, den sie nach der Rückkehr aus Ados erster Haft gezeugt haben, hole ich mit dieser Zeitverschiebung in die Zagreber Vorkriegs-Glückskapsel mit herein.«
Die Realität: »Die Wehrmacht marschiert in Kolonnen ohne Widerstand in Zagreb ein und nimmt Quartier in den Kasernen vor der Stadt. Über Nacht sind die kroatischen Ustaschas da. Straßennachbarn legen Uniformen und Abzeichen an und geben zu erkennen, dass sie längst zu ihnen gehören. Eine Woche lang halten alle anderen ihre Türen verschlossen. Nachts herrscht Ausgangssperre, Seka und Ado hören Schüsse, morgens liegen Tote auf der Straße.« Seka ist da noch schwanger. Während sich Ados Exil-Gefährten Partisanengruppen anschließen, bleibt er bei seiner Frau. »Im Frühjahr trifft eine Vorladung zur Polizei ein, Decke und Zahnbürste sind mitzubringen.« Vor den Ustaschas flüchtet das Paar nun mit Tochter und neu geborenem Sohn mit Hilfe eines Konsuls, der einst Assessor bei Ados Vater war, als »Volksdeutsche« getarnt nach Nazideutschland.
In Ados Elternhaus nach Berlin, zu dessen Mutter Paula, »die erst durch die faschistischen Rassengesetze daran erinnert wurde, dass sie Jüdin ist.« Seit 1933 ist sie Witwe. Ihr Vermögen wird als »Judenbuße« eingezogen, schließlich wird sie nach Theresienstadt deportiert. In die Berliner Kapitel flicht die Autorin Rückblicke ein auf die Geschichte der Achenbach-Familie, auf Ados Flucht aus dieser »geordneten« Welt ins Künstler- und Revolutionärsleben. Und schildert dann wieder den Alltag gegen Kriegsende, den Weg des Vaters ins KZ, die Umsiedlung nach Ahrenshoop.
An Spannung mangelt es auch in den weiteren Kapiteln nicht, die uns bis ins Jahr 2007 führen, als Seka, 90 Jahre alt, in München stirbt. Die Hoffnungen auf einen antifaschistischen Neubeginn, das Heranwachsen der Kinder, die Trennung von Ado und Seka, deren neue Ehen – Seka schließt eine kurze, beide nicht besonders befriedigende mit dem ehemaligen Spanienkämpfer und Schriftsteller Alfred Kantorowicz – Ado als DDR-Kulturfunktionär, sein früher Tod, Sekas Weg in die Bundesrepublik.
Dies alles ist verbunden mit der Schilderung von Auseinandersetzungen, Widersprüchen, politischen Entwicklungen, Schicksalsschlägen, die den handelnden Personen das Leben nicht gerade leicht machen. Immer wieder gibt es Hindernisse: Für Seka etwa ist es in ihrer DDR-Zeit plötzlich der »Titoismus«-Vorwurf. Als sie dann plant, mit den Kindern in ihre jugoslawische Geburtsheimat zurück zu ziehen, wird sie dort als »DDR-Agentin« verdächtigt.
»Seka«, schreibt Marina Achenbach über die wichtigste Quelle ihres Buches, »erzählt ihr Leben lang Geschichten, wir hören süchtig zu, obwohl wir sie verdächtigen, dass sie übertreibt. Aber wir spornen sie an mit einem geflüsterten: ‚Und dann?‘. Sie rollt ihren Erzählfaden auf, lässt ihn schwirren und kreisen. Wenn wir anfangen, sie nach Umständen und Gründen zu fragen, versickert ihre Erzähllust. Ein geordnetes Berichten langweilt sie. Sie steht auf und kocht sich einen Tee. Als wollte sie uns sagen: Wenn ihr mir nicht glaubt, finde ich es traurig, aber auch euch, meinen Lieblingen, wird es nicht gelingen, mich zu zähmen.«
Marina Achenbach, geboren 1939 in Zagreb, wuchs in der DDR auf, hat danach Slawistik in München, Tübingen und Moskau studiert und als Übersetzerin für Russisch und Serbokroatisch sowie für den polnisch-deutschen Kulturaustausch gearbeitet. Sie drehte Dokumentarfilme und war 1990 an der Gründung der Wochenzeitung „Der Freitag“ beteiligt, entstanden aus der Fusion der BRD-„Volkszeitung“ (die wiederum aus einer vorhergegangenen Verbindung des Friedensbewegungs-Traditionsblattes „Deutsche Volkszeitung“ mit der VVN-Wochenzeitung „die tat“ hervorgegangen war) und der DDR-Kulturbund-Wochenschrift „Sonntag“. Über ein Jahrzehnt schrieb sie für den „Freitag“ Reportagen, nicht zuletzt über den Jugoslawienkrieg, zu dem sie 1994 auch das Buch „Auf dem Weg nach Sarajevo“ veröffentlichte. 2004 erschien von ihr im Asso Verlag Oberhausen das Buch „Fasia geliebte Rebellin“ über die Liedermacherin und Sängerin Fasia Jansen.