Umkehr erst nach Hungerstreik

geschrieben von Renate Hennecke

13. Mai 2017

Über den Umgang der Justiz mit Sinti und Roma nach 1945

»Die heutige Veranstaltung ist nicht weniger als die symbolische Bitte der deutschen Justiz um Entschuldigung für eine Rechtsprechung, die Menschen wegen ihrer Abstammung pauschal diskriminiert hat. In der Nazi-Zeit wurden Sinti und Roma verfolgt und ermordet; und in der jungen Bundesrepublik hat der Bundesgerichtshof mit seinen sogenannten ‚Zigeuner‘-Urteilen die Opfer verhöhnt, ihr Leid ignoriert und das Unrecht fortgesetzt.«

Die 68-seitige Broschüre kann kostenfrei beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma bestellt werden. Eine Online-Version zum Herunterladen ist angekündigt: Doppeltes Unrecht – eine späte Entschuldigung. Gemeinsames Symposium des Bundesgerichtshofs und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zu den Urteilen vom 7. Januar 1956. - Herausgeber: Die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Herrenstr. 45a, 76133 Karlsruhe, und Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, Bremeneckgasse 2, 69117 Heidelberg (http://zentralrat.sintiundroma.de/)

Die 68-seitige Broschüre kann kostenfrei beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma bestellt werden. Eine Online-Version zum Herunterladen ist angekündigt:
Doppeltes Unrecht – eine späte Entschuldigung. Gemeinsames Symposium des Bundesgerichtshofs und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zu den Urteilen vom 7. Januar 1956. – Herausgeber: Die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Herrenstr. 45a, 76133 Karlsruhe, und Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, Bremeneckgasse 2, 69117 Heidelberg (http://zentralrat.sintiundroma.de/)

So Stefanie Hubig, Staatssekretärin im Bundesjustizministerium, bei der Eröffnung des Symposiums »Doppeltes Unrecht – eine späte Entschuldigung«, das im vorigen Jahr gemeinsam vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und dem Bundesgerichtshof (BGH) durchgeführt wurde. Eine Broschüre mit den Redebeiträgen des Symposiums ist Anfang März 2017 erschienen.
Anlass war der 60. Jahrestag zweier BGH-Urteile vom 7. Januar 1956. Geklagt hatten Sinti, deren Anträge auf Entschädigung für die während der NS-Zeit erlittene Verfolgung mit der Begründung abgelehnt worden waren, sie seien nicht wegen ihrer »Rasse« verfolgt worden. Anspruch auf Entschädigung hatten nämlich nur »rassisch, religiös oder politisch Verfolgte«. Sinti und Roma, die nach dem 1. März 1943 nach Auschwitz deportiert worden waren, wurden meist als rassisch Verfolgte anerkannt. Vor diesem Stichtag durchgeführte Maßnahmen (Internierung in Lagern, Verhaftungen, Deportationen ins besetzte Polen) waren dagegen nach Auffassung des BGH, entgegen anderslautenden Urteilen von Gerichten der unteren Instanzen, ausschließlich aus sicherheitspolitischen, kriminalpräventiven und militärischen Gründen erfolgt.
Wenige Jahre, nachdem die deutsche Wehrmacht ganz Europa besetzt und verwüstet hatte, unterstellte das oberste BRD-Gericht den Sinti und Roma, ihnen sei »wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationsdrang eigen«, und rechtfertigte damit Verfolgungsmaßnahmen, die in einen Völkermord mit 500.000 Opfern gemündet hatten. Die BGH-Urteile von 1956 führten zum Ausschluss eines großen Teils der Sinti und Roma von Entschädigungszahlungen und setzten die Diskriminierung der Minderheit fort. Erst 1963 änderte sich die höchstrichterliche Rechtsprechung. In der Broschüre sind die beiden skandalösen Urteile im Wortlaut abgedruckt, zusammen mit einem Vortrag, in dem der pensionierte BGH-Richter Detlev Fischer über den Inhalt, die Vorgeschichte und die weitere Entwicklung hin zu den anderslautenden Urteilen ab 1963 berichtet.
Die Einbettung der BGH-Entscheidungen von 1956 in den Kontext eines erschreckenden Selbstverständnisses der Juristen an dem Gericht, das seit 1950 als oberste Instanz der BRD-Gerichtsbarkeit fungierte, beleuchtet der Rechtshistoriker Ingo Müller, Autor des bekannten Buches »Furchtbare Juristen«. Die am BGH tätigen Richter seien, so Müller, zum großen Teil schon während der NS-Zeit im Amt gewesen (1950: 68 Prozent, 1962: 77 Prozent). Ausdrücklich habe sich das Gericht in die Tradition des Reichsgerichts gestellt, von manchen Juristen sei es sogar als dessen direkte Fortsetzung betrachtet worden.
Die demokratiefeindliche Einstellung des Gerichts belegt Müller anhand von zwei Kontroversen, bei denen es um die Einstufung des Dritten Reichs als »Unrechtsstaat« (und damit um die Legitimität des Widerstands vom 20. Juli 1944) bzw. um die Kontinuität zwischen Drittem Reich und BRD ging. Abschließend konstatiert er eine seit den 1980er Jahren zu beobachtende Veränderung des juristischen Blickwinkels auch beim BGH und kommt zu dem optimistischen Fazit, dass seit rund 25 Jahren begründete Hoffnung bestehe, dass zwischen dem Dritten Reich und der BRD ein endgültiger Trennstrich gezogen sei.
Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, würdigte das Symposium als »Veranstaltung … (die) für unsere Minderheit eine historische Bedeutung hat«. Er wies darauf hin, dass die Urteile von 1956 nicht nur eine erneute Entrechtung der Sinti und Roma bedeuteten, sondern auch »richtungweisend (waren) für das Verhalten der Justiz bezüglich der Verfolgung der Täter und Organisatoren des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma«: Sie konnten unbehelligt ihre Karrieren fortsetzen.
Schließlich erinnerte Rose daran, wodurch eine wirkliche gesellschaftliche Veränderung angestoßen wurde: »durch die Bürgerrechtsarbeit und die Selbstorganisation der Minderheit, die mit dem historischen Hungerstreik von Überlebenden und von jungen Sinti an Ostern 1980 in der KZ-Gedenkstätte Dachau ihren Anfang nahm«. Die Hungerstreikenden forderten öffentlich die Anerkennung und Aufarbeitung des NS-Völkermordes an Sinti und Roma und die Behandlung als gleichberechtigte Bürger, die seit über 600 Jahren hier beheimatet sind. An die nicht zur Gruppe der Sinti und Roma gehörigen Menschen in diesem Land appellierte er: »Gerade wir als Minderheit sind darauf angewiesen, dass diese Rechte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern im Alltag auch eingelöst werden, dass sie mit Leben erfüllt werden. Dafür brauchen wir nicht zuletzt eine starke Zivilgesellschaft.«