Diskriminierung dauert an
21. September 2017
Untersuchung zur Geschichte der Sinti und Roma
Ein spannendes und leider noch immer aktuelles Thema! Man könnte auch von einer » Geschichte des Abendlandes – Kurzer Lehrgang« reden. Karola Fings ist nicht nur die stellvertretende Leiterin des renommierten NS-Dokumentationszentrums in Köln, sondern, durch zahlreiche Publikationen ausgewiesen, auch eine Kennerin dieser Materie. Sie hat es nun unternommen, das Thema in einem schmalen, aber inhaltsreichen Bändchen zusammenzufassen.
Im Vorwort trifft sie zunächst zwei grundlegende Feststellungen, die sie im Folgenden vielfältig exemplifizieren wird: Die Sinti und Roma gibt es nicht. Als Minderheiten, sprachliche, nationale oder regionale Gruppen, sind sie in ihren individuellen Lebensentwürfen genau so vielfältig wie die jeweiligen Mehrheitsgesellschaften. Und die Kenntnisse über diese größte Minderheit in Europa sind bisher kaum wissenschaftlich fundiert. Das tradierte »Wissen«, verbreitet über Literatur und Kunst, enthält ein Bild vom »Zigeuner«, das die Sinti und Roma romantisiert, kriminalisiert oder – analog zu »den Juden« – rassenanthropologisch als Fremde kennzeichnet. Auch in bewusster Abgrenzung zu dieser Vorgehensweise sieht Fings das Problem, dass »jedes Schreiben über Sinti und Roma die Gefahr« enthält, »Stereotype zu reproduzieren.« Ob als verhasste Fremde oder als bemitleidenswerte Opfer dargestellt, immer erhalten sie einen »Objektstatus zugewiesen, werden sie als Subjekte der Geschichte negiert.« Vom Schreiber werden »aus privilegierter Position Deutungen und Zuschreibungen vorgenommen.«
Wesentliches Element zur Bewahrung und Entwicklung einer eigenen kulturellen Identität einer Minderheit ist Sprache, in diesem Fall das Romanes. Sinti und Roma waren in den Mehrheitsgesellschaften immer zur Zweisprachigkeit gezwungen. Im Gegensatz zu anderen Minderheitssprachen erlangte Romanes jedoch nirgendwo den Status einer zweiten Amtssprache. Hinzu kam das Fehlen einer Schriftsprache. Seit dem 16. Jh. gab es Versuche einer lexikalischen Erfassung durch die europäische Philologie und mit der Entdeckung der Herkunft des Romanes aus dem Sanskrit auch die Erstellung einer Grammatik. Als wesentlichen Durchbruch nennt Fings die Anerkennung des Romanes 1927 in der UdSSR als Nationalsprache, nachdem Roma-Aktivisten und sowjetische Linguisten entsprechendes Lehrmaterial erarbeitet und Literatur übersetzt hatten. Sie beklagt dann, dass »diese kurze Blüte« durch die Änderung der Nationalitätenpolitik 1938 beendet worden sei, räumt aber an anderer Stelle auch ein, die Behandlung der Roma als gleichberechtigte Bürger der Sowjetgesellschaft hätte ihnen bessere Aufstiegschancen ohne Diskriminierung verschafft.
In den folgenden Abschnitten zeigt sie, ihrem Programm getreu, wie die Abwehr gegenüber den ›Fremden‹ und die daraus folgenden Zwangsmaßnahmen der Mehrheit, die Minderheit zu bestimmten Lebens- und Reproduktionsformen zwang (Nichtsesshaftigkeit, Gelegenheitshandwerk und –Handel, Schaustellerei, etc.), die die Mehrheit wiederum als ›Wesensmerkale‹ der Minderheit ausgab. Die darauf fußende Tsiganologie fand dann Eingang in die polizeiliche Repression des 19. und 20. Jh. Eindrucksvoll stellt sie dar, wie die Gleichheitsforderung der bürgerlichen Revolution ideologisch durch rassistische und darwinistische Vorstellungen unterlaufen wurde, die ja auch zur Rechtfertigung des Kolonialismus herhalten mussten. Von ›Tsiganologen‹ vom Schlage eines Johann Gottfried Herder führt so eine Linie zur NS-Rassenkunde mit der Endstation Auschwitz.
Im Deutschen Reich führte das Staatsbürgerrecht, das sich auf ›Abstammung‹ gründete, zu einer weitgehend unsicheren Rechtslage von Polen, Juden und Roma. Viele galten als staatenlos. Besonders die ›Zigeuner‹ unterlagen damit polizeilichen Sondermaßnahmen, die die Weimarer Republik überdauerten. Mit den Nürnberger Gesetzen wurden die Weichen für die schrittweise radikale Entrechtung und Verfolgung auch der Sinti und Roma gestellt. In knappen, aber eindringlichen Absätzen wird die ganze Dimension von Deportation, Zwangsarbeit und Vernichtung, moralischer Blindheit und Kollaboration sichtbar.
In den Schlusskapiteln werden die Strategien der Opfer zur Selbstbehauptung und zum Widerstand geschildert. Der beschämenden Fortdauer der Diskriminierung zumal in der deutschen Gesellschaft nach1945 stehen die Bemühungen zum Aufbau einer internationalen Bürgerrechtsbewegung gegenüber. Ihre feierliche Anerkennung als Opfer des NS-Völkermords – symbolisiert durch das Mahnmal in Berlin – ändert nichts daran, dass die herrschende Politik ihre Verantwortung für das Schicksal der Roma nach der Zerschlagung Jugoslawiens negiert! Rassismus und Ethnisierung von Armut kennzeichnen die EU seit der ›Wende‹.
Der Abgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaften (z.B. »Zigeuner«) steht die eigene begriffliche Definition der Minderheit in den verschiedenen Dialekten (Rom, Roma, Sinti) gegenüber der Mehrheit (Gadje). Die Selbstdefinition beinhaltet jedoch keinesfalls Homogenität! Die örtlichen Gemeinschaften sind, abhängig von ihren freiwilligen oder erzwungenen Wanderungen, immer mit der sie umgebenden Mehrheit verwoben.