»Das muss weiter gehen«
17. August 2018
antifa-Gespräch mit Ulrich Rabe aus Mecklenburg-Vorpommern
antifa: Du bist einer der Mitbegründer unseres Verbandes. Was war der Auslöser für Deine Mitarbeit in der VVN und was hast Du erwartet?
Ulrich Rabe: Mein Aufwachsen als Jugendlicher in einer sächsischen Kleinstadt war geprägt von systematischer Diskriminierung durch die Nazis. Als Kind einer liberalen bürgerlichen Familie musste ich erleben, dass uns Freunde und Menschen, mit denen ich bisher einen respektvollen Umgang erlebt hatte, ignorierten und immer mehr ausgrenzten. Man hatte mich nach den Gesetzen der Nazis zum »Halbjuden« gemacht und mit 17 Jahren zur Zwangsarbeit nach Frankreich deportiert. Diesem sozialen Absturz folgten Demütigung und Gewalt in den Lagern. Auf abenteuerliche Weise gelang mir die Flucht. Nach Ende des Krieges, nunmehr als Juso, veranlassten mich diese Erfahrungen sowie der Tod von 14 Verwandten, als Delegierter an der Interzonenkonferenz zur Festlegung einheitlicher Maßstäbe für die Anerkennung als Opfer des Faschismus in Halle teilzunehmen. Die Verbrechen der Nazis sollten sich nie wiederholen dürfen.
antifa: Mit welchen Aufgaben warst du in der VVN der Anfangsjahre konfrontiert und wie wurde dein Engagement aufgenommen?
Ulrich Rabe: In Europa gab es nach dem Krieg Millionen Flüchtlinge, darunter tausende überlebende Opfer der Nazis. Über deren Anerkennung hatten wir als Kommission zu entscheiden. Ein Kriterium war der Nachweis von mindestens sechs Monaten Haft durch Zeugen. Ohne Telefon, Schreibmaschine und Schreibpapier, ohne überregionale Kommunikation mit anderen Behörden war das oft kaum möglich. Dadurch konnten uns Täter, dank ihres Wissens aus den Konzentrationslagern täuschen und der juristischen Verfolgung entkommen oder sich selbst als Opfer ausgeben. Unsere Aufgabe war es, Opfern und Verfolgten zu helfen, ihre Würde zurück zu bekommen, ihnen den Start in einem für sie nun freien Leben zu ermöglichen. Dazu gehörte Unterstützung im Alltag bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei der Beschaffung von Heizmaterial, Lebensmittelkarten, Bezugsscheinen. In den Polikliniken kümmerten sich VdN-Ärzte um die Gesundheit der Nazi-Opfer, in Erholungsheimen erholten sie sich von Hunger, Folter und Entbehrungen. Alle Verkehrsmittel konnten von ihnen und ihrer Familie kostenlos genutzt werden. Große Teile der Bevölkerung standen unserem Engagement damals skeptisch gegenüber weil sie ideologisch noch belastet oder auch neidisch auf die Vergünstigungen der OdF waren.
antifa: Was ist dir besonders in Erinnerung geblieben?
Ulrich Rabe: Es ist vor allem die vielfältige und schwierige Arbeit der Anfangsjahre in der VVN bis zu den 50er Jahren, an die ich mich gern erinnere. Wir hatten damals große Schwierigkeiten zu bewältigen, aber die Möglichkeit, vielen Nazi-Opfern tatsächlich wirksam helfen zu können. Das war auch eine Form moralischer Wiedergutmachung. Mein Anspruch, als Zeitzeuge, das Gedenken an die Nazi-Opfer, die Bewahrung ihrer Geschichte, ihres Kampfes, ihrer Siege und Niederlagen an nachfolgende Generationen weiter zu geben, hat für mich bis heute Priorität. Meine vielfältige berufliche Tätigkeit in der DDR und im Ausland nutzte ich, die Menschen über die grausamen Methoden des deutschen Faschismus aufzuklären, mit denen versucht wurde, den politischen Widerstand zu brechen. Vor allem nahm ich jede Gelegenheit wahr, über die Verfolgung, Ausgrenzung und Vernichtung rassisch Verfolgter an meinem eigenen Beispiel zu berichten und über die Ursachen aufzuklären. Besonders wichtig waren mir die vielen Gespräche als Zeitzeuge mit Schülern und Studenten. Nicht zuletzt lebt meine antifaschistische Grundhaltung auch in meiner Familie und meinen Kindern weiter, die sich nach der Wende aktiv für eine Fortsetzung der VVN-Arbeit einsetzen.
antifa: Was ist mit nun 92 Jahren rückblickend von Deinen antifaschistischen Zielen in Erfüllung gegangen, was nicht?
Ulrich Rabe: Wir wollten, wie es auch im Buchenwaldschwur heißt, eine Welt des Friedens und der Solidarität errichten. Wir wollten nicht ruhen, bis die letzten Täter vor Gericht stehen. Leider sind uns einige Täter entkommen, die Mehrheit davon in Westdeutschland, wo die Nazizeit jahrzehntelang beschönigt oder ignoriert wurde und Täter in den Spitzen der Gesellschaft neue Verwendung fanden. Ich habe vierzig Jahre Frieden in Europa erlebt, der aber nach Beendigung der friedlichen Koexistent zweier Systeme schnell wieder vorbei war. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden weltweit hunderte Kriege geführt. Die Erwartung einer friedlichen Welt als Lehre aus dem Faschismus hat sich für mich leider nicht erfüllt. Freiheit heißt für mich auch, den Menschen ein Leben in Würde zu gewähren. Die zunehmende soziale Spaltung nimmt vielen diese Würde. Es zeigt mir, dass Arbeit im antifaschistischen Sinne weiter dringend notwendig ist.