Erfahrungen aus 70 Jahren
20. Mai 2019
Zum antifaschistischen Umgang mit dem Grundgesetz
Als der 70. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes nahte, wurde mir bewusst, dass der Beginn meines politischen Engagements ebenfalls 70 Jahre her ist. Geboren 1932, bin ich in der Zeit der Naziherrschaft herangewachsen, habe sie als Kind und Jugendlicher erlebt. Eingegraben in mein Gedächtnis sind neben persönlichen Ereignissen vor allem die Kriegsjahre mit Bombardierungen, Tieffliegerangriffen usw., Evakuierungen, die damit verbundenen Strapazen, Schrecken und Ängste, und schließlich auch unmittelbare Erlebnisse des Naziterrors.
Deshalb spielen Frieden und Freiheit für mich eine entscheidende Rolle. Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! waren und sind, neben erträglichen Lebensbedingungen, auch für mich die wichtigsten Ziele.
Folgerichtig engagierte ich mich in den 50er Jahren vor allem gegen die Wiederaufrüstung.
Das Grundgesetz als solches spielte dabei für mich noch keine wesentliche Rolle; es befand sich gewissermaßen im Hintergrund. Erst später wurde mir bewusst, wie wichtig es ist.
Bei politischer Betätigung, bei Protesten, Demonstrationen und dergleichen ist der mögliche Bezug auf die im Grundgesetz verankerten Rechte und Freiheiten von erheblicher Bedeutung, wenn auch die Inanspruchnahme dieser Rechte nicht einfach und geradewegs durchsetzbar ist. Im Moment der Auseinandersetzung sind behördliche und polizeiliche Macht und Gewalt (und auch Willkür) in der Regel stärker. Auch das habe ich erfahren müssen. Dennoch stärkt das Wissen, Rechte zu haben, die Kraft zum Widerspruch und Widerstand.
Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes verbunden war die Gründung der westdeutschen Bundesrepublik und damit die Spaltung Deutschlands. Nach Artikel 146 sollte das Grundgesetz seine Gültigkeit verlieren wenn eine »vom deutschen Volke in freier Entscheidung« beschlossene neue Verfassung in Kraft tritt. Wie manches andere, wurde auch dieser Artikel nicht erfüllt.
Das Grundgesetz hat zweifellos einen antifaschistischen Grundcharakter. Das wird bereits mit Artikel 139, der die »Fortgeltung der Befreiungsgesetze« (»zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus«) feststellt, deutlich.
Erarbeitet unmittelbar nach den Erlebnissen und Erfahrungen der Naziherrschaft und des von ihr verursachten Krieges, ist das Grundgesetz, wie es auch das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, geradezu ein »Gegenentwurf« zur faschistischen Diktatur und »darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen«.
Antifaschisten verteidigten die demokratischen Rechte und Freiheiten von Anfang an gegen die Remilitarisierung, gegen die Spaltung Deutschlands, gegen Einschränkungen demokratischer Rechte und Freiheiten (z.B. durch Blitz-, Notstands- und Sondergesetze).
Der Kalte Krieg und die damit verbundene Restaurierung alter Machtverhältnisse führten jedoch zu einer gewissen Ohnmacht auch bei den antifaschistischen Kräften, verstärkt durch staatliche Repressionen (Verbote von Organisationen, KPD-Verbot, Entlassungen von Antifaschisten, Wiedereinzug NS-belasteter Beamter usw.)
Erst die in den 60er und 70er Jahren einsetzenden Protestbewegungen (Ostermärsche, Anti-Notstands-, Anti-Atom-, 68er und Antikriegs-Bewegung, Widerstand gegen die Berufsverbote) brachten wieder eine Stärkung der oppositionellen Kräfte. Auch beim Kampf gegen die Nachrüstung in den 80er Jahren mit einer stärkeren Friedensbewegung, ging es um die Inanspruchnahme demokratischer Rechte.
Anders die Verfassungswirklichkeit: Durch vorgenommene Ergänzungen (z.B. für die Wehrverfassung, Notstandsgesetze, Abbau des Asylrechts usw.) wurde das Grundgesetz an mehreren Stellen verändert, gegenüber seiner ursprünglichen Fassung und Zielsetzung geradezu verfälscht.
Eine Reihe politischer Entscheidungen, wie z.B. die Kriegsbeteiligungen in Jugoslawien, Afghanistan und andere Militäreinsätze, sind eindeutige Verstöße gegen das Friedensgebot und das Verbot von Angriffskriegen (Präambel und Art. 26).
Zur Missachtung des antifaschistischen Grundcharakters des Grundgesetzes gehört die jahrzehntelang unzureichende oder nahezu gar nicht stattfindende Bekämpfung der Auftritte und Umtriebe von Alt- und Neonazis.
Solche Verletzungen und Missachtungen des Grundgesetzes sind jedoch kein Anlass und erst recht kein Grund, die Verteidigung des Grundgesetzes aufzugeben. Im Gegenteil.
Es besteht nach wie vor die Aufgabe, das Grundgesetze nicht nur zu verteidigen, sondern vor allem seine Anwendung zu verlangen. Grund- und Menschenrechte müssen in Anspruch genommen werden, damit sie nicht nur auf dem Papier stehen.
Die hilfreiche Rolle des Grundgesetzes zeigt sich am aktuellen Beispiel der Forderung nach Enteignung von Wohnungskonzernen, die ihrerseits die Sozialverpflichtung, wie sie in Artikel 14 vorgeschrieben ist, missachten. Artikel 15 des Grundgesetzes ermöglicht immerhin die Vergesellschaftung von Grund und Boden.
Peter Christian Walther (86), Journalist, , seit 1949 politisch, gewerkschaftlich und antifaschistisch engagiert, seit 1968 Redakteur von Zeitungen und Zeitschriften der VVN, von 1992 bis 2002 Bundessprecher der westdeutschen VVN-BdA, 1990 bis 2018 Mitglied des Bundesausschusses, zuerst der west-, dann ab 2002 der gesamtdeutschen VVN-BdA, zu deren Zustandekommen er wesentlich beigetragen hat.