Wir sind alle Antifa
15. August 2019
Auszüge aus einem offenen Brief an Hamburgs Kultursenator Dr. Brosda
»Vorbei ist nicht vorüber«, schrieb Elias Canetti. Das ist für uns als Vereinigung der Überlebenden der Konzentrationslager, ihrer Angehörigen und Freund*innen tägliches Erleben. Und daraus folgt für uns: Wir sind alle Antifa – Antifaschisten und Antifaschistinnen! Und Menschen wie ich, die den NS-Terror und die Konzentrationslager überlebt haben, sind froh über jeden einzelnen, der mit uns streitet für eine andere, bessere Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus, Antiziganismus, gegen Ausländerhass. Und der gegen die Ausbeutung der Menschen und unseres Planeten kämpft, Hilfesuchende unterstützt und Geflüchtete aus Seenot rettet. Heute Antifaschist*in zu sein, bedeutet für uns, sich der schweren Aufgabe der Auseinandersetzung mit den Ursachen, den Erscheinungsformen des Nationalsozialismus, des Nationalismus und der Menschenfeindlichkeit zu stellen.
Heute Antifaschist*in zu sein, bedeutet für uns, alles uns Mögliche zu tun, um nie wieder zuzulassen, dass Menschen verfolgt und ermordet werden, dass die Menschheit durch Kriege bedroht oder vernichtet wird. Für uns Shoah-Überlebende, für unsere Angehörigen und Freund*innen ist das eine Aufgabe, die unser ganzes Leben bestimmt. Und wir würden unter dieser Aufgabe zusammenbrechen, wenn da nicht gemeinsam mit uns viele Menschen streiten würden. Und über jede*n einzelne*n dieser Vielen freuen wir uns, sie sind unsere Freund*innen, unsere Hoffnung auf eine bessere und friedliche Welt, in der nichts und niemand vergessen ist! Diese Hoffnung setzen wir besonders auf die jungen Leute, die jungen Antifa.
Jede Generation der Antifa geht ihren eigenen Weg, wir sind keine homogene Gruppe, wir handeln selbstbestimmt und erkenntnisgeleitet, aber uns alle eint: Das »Nie wieder«, die kompromisslose Ablehnung von Faschismus und Krieg. Manchem sind wir unbequem, wir Antifaschist*innen. Wir sind die ewigen Mahner, die an schreckliche Zeiten erinnern. Und jetzt, in Zeiten, in denen die rechte Szene sich zunehmend radikalisiert, weil viel zu viele einfach nur zuschauen und den Mund halten… Und in Hamburg sprechen Sie als Senator für Kultur und Medien von der »so genannten Antifa« auf einer Gedenkfeier vor und mit Überlebenden des KZ Neuengamme. Und dabei hatten Sie, Dr. Brosda, Ihre Rede so eindrucksvoll begonnen, sprachen von »gemeinsamer Verantwortung im Kampf gegen den Rechtsextremismus«. Um dann aber von einer »so genannten Antifa« zu sprechen, deren weitere ideologische Positionen keine gesellschaftliche Resonanz erwarten dürfen; Sie benutzen dabei Begriffe, die in der rechtsradikalen Szene gebräuchlich sind, fahren fort mit pauschaler Gleichsetzung linker und rechter politischer Weltbilder. »So genannt«, das hat ganze Generationen durch den Kalten Krieg begleitet. Wir hatten angenommen, diese Begrifflichkeit sei inzwischen überholt… Wir laden Sie, Herr Kultursenator, ein zum Gespräch. Es gibt viel zu reden. Es gibt viel zu tun…
Esther Bejarano, Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland e.V.