Wolfenbüttel
23. März 2020
Blutjustiz der Nazizeit und Repression im Kalten Krieg
Im November 2019 wurde in der Haftanstalt Wolfenbüttel, Niedersachsen, eine Dokumentationsstätte eröffnet, die zusammen mit der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen von der »Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten« verwaltet wird. In Vorbereitung der Neukonzeption hatten sich u.a. die niedersächsische VVN-BdA, die »Initiative zur Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges« und die AG »Kinder des Widerstandes« stark dafür eingesetzt, dass auch die Geschichte und Nachnutzung dieser Nazi-Hinrichtungsstätte nach der Befreiung berücksichtigt wird. Dies ist in der neuen Ausstellung – teilweise mit Archivalien aus dem VVN-Archiv – umgesetzt worden. Wir drucken im Folgenden einen gekürzten Artikel von Michael Rössig aus der UZ vom 13.12.19 nach, der durch Fotos aus der Ausstellung von der VVN ergänzt wurde:
In der neu eröffneten Gedenkstätte wird an Hand zahlreicher Dokumente und Darstellungen aus der Haftanstalt die unheilvolle Rolle von Justiz und Strafvollzug in der Zeit der Nazidiktatur dokumentiert. In einem eigenständigen Abschnitt, und das ist bemerkenswert und neu, wird auch auf die Verfolgung politischer Gegner, vor allem Kommunisten und Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ), in der Bundesrepublik bis 1968 eingegangen; juristische und personelle Kontinuitäten mit der Nazizeit werden aufgezeigt. Darauf wies bei der Eröffnung in Anwesenheit von Überlebenden der Nazizeit beziehungsweise Verfolgten des Kalten Krieges und deren Angehöriger der niedersächsische Kultusminister Hendrick Tonne (SPD) hin.
Neben Kriminalgefangenen wurden in der Nazizeit vor allem politische Häftlinge und nach der Sonderjustiz der NS-Machthaber Verurteilte, z. B. sog. ›Arbeitsscheue‹ inhaftiert. Auch zahlreiche in sog. »Nacht-und-Nebel-Aktionen« verhaftete Widerständler aus Frankreich und Belgien wurden nach Wolfenbüttel verschleppt. 516 Todesurteile wurden bis 1945 vollstreckt. Diese Dokumentation macht den größeren Teil der Ausstellung aus.
In kleinerem Umfang behandelt sie aber auch die Rolle von Justiz und Strafvollzug in der durch Kalten Krieg und scharfen Antikommunismus geprägten Zeit der 50er und 60er Jahre. Um den Widerstand in der Bevölkerung gegen die Wiederaufrüstung zu brechen, wurde das politische Strafrecht verschärft. Die 1951 mit dem 1. Strafrechtsänderungsgesetz wieder eingeführten Tatbestände der Staatsgefährdung und des Hoch- und Landesverrates, die zum Teil fast wortgleich aus der Strafrechtsnovelle von 1934 übernommen wurden, richteten sich vor allem gegen die politische Tätigkeit von Kommunisten. »Dazu zählten die Gerichte auch entsprechende Meinungsäußerungen«, wird auf der in der Ausstellung gezeigten Schautafel »Politisches Strafrecht« feststellt.
Richter aus der Nazizeit
Neben den neuen/alten Vorschriften und Gesetzen wurden zu deren Umsetzung Sonderstrafkammern eingerichtet, die sich ausschließlich mit politischen Verfahren beschäftigten. Hier sollten Richter und Staatsanwälte »mit Erfahrung« im politischen Strafrecht tätig werden. »In der westdeutschen Justiz wurde nationalsozialistisch belastetes Personal wiedereingestellt«, so eine Schautafel. Zwei Vertreter, Richter Konrad Lenski und Staatsanwalt Karl-Heinz Ottersbach, aus der in den 50er Jahren für die Vielzahl und Härte ihrer politischen Urteile berüchtigten 4. Strafkammer am Landgericht Lüneburg, werden in der Ausstellung vorgestellt. Beide waren in der Nazijustiz an Todesurteilen, z. T. wegen Bagatelldelikten wie Verkaufen von Brot ohne Marken, beteiligt. Als Sonderstrafjuristen bewirkten sie die Verurteilung zahlreicher KPD- und FDJ-Mitglieder, aber auch politisch nicht organisierter Menschen, von denen viele in Wolfenbüttel inhaftiert waren.
»Einem Polizeistaat alle Ehre gemacht«
Insgesamt waren in Wolfenbüttel über 100 aus politischen Gründen Verurteilte inhaftiert. Kurze Biografien von vier dort inhaftierten Kommunisten – August Baumgarte, Richard Brennig, Willi Gerns, Walter Timpe – werden in der Ausstellung mit Foto vorgestellt.
1.029 Verurteilungen und 908 Gefängnisstrafen in den Jahren von 1952 bis 1968 benennt ein in der Ausstellung gezeigtes Diagramm allein für das Land Niedersachsen. Hinzu kommen Sekundärstrafen und weitere Benachteiligungen wie Gerichtskosten und der Verlust des Arbeitsplatzes. Bundesweite Schätzungen kommen zu Zahlen für das Ausmaß der politischen Strafverfolgung, von denen schon 1964 der spätere Bundesinnenminister Maihofer (FDP) sagte, dass sie »einem ausgewachsenen Polizeistaat alle Ehren machen«.
Nicht thematisiert in der Ausstellung und offen bleibt die Frage der Entschädigung und Wiedergutmachung. Keiner der von ehemaligen Nazirichtern Verurteilten wurde rehabilitiert. Entschädigungsrenten für Inhaftierungen während der Nazizeit blieben aberkannt. Das Unrecht, das den Opfern des Kalten Krieges im Westen widerfahren ist, wirkt so weiter fort.
Empörend die politische Verfolgung von August Baumgarte! Nach 12 Jahren Haft als aktiver Gewerkschafter und Kommunist in verschiedenen Haftanstalten und Konzentrationslagern in der Nazizeit wurde er von der Justiz von 1956 bis 1958 wieder für zwei Jahre wegen seiner politischen Betätigung für die KPD eingesperrt. Die gesetzlich vorgesehene Entschädigung für die Inhaftierung während der Nazizeit wurde ihm aberkannt.