Den Gulag überlebt
24. Mai 2020
Erinnerung an Fridolin Seydewitz (1919-2016)
»Wir hatten die Sowjetunion anders eingeschätzt und in ihr die Zukunft gesehen, weil von dort der Gedanke ausging, dass man friedlich auf der Erde leben kann. So dachten viele ehrliche Sozialdemokraten und Kommunisten, die sich auch für uns einsetzten. Wir hielten auch nichts vom Führer-Kult, denn das darf es nicht geben. Die Sowjetunion hat sich mit Stalin selbst ein Grab geschaffen, sich selbst ins eigene Fleisch geschnitten, und der Sozialismus ist diskreditiert worden.«
Am 7. Februar 1919 wurde Fridolin Seydewitz in Leipzig in eine alte sozialdemokratische Arbeiterfamilie hineingeboren. Sein Vater Max Seydewitz war linker Sozialdemokrat, Chefredakteur des Sächsischen Volksblatts und saß ab 1924 für die SPD im Reichstag. Die Erziehung in diesem Elternhaus führte Fridolin zum Entschluss, sich bei dem sozialistischen Jugendverband »Rote Falken« zu organisieren. In Zwickau besuchte er nach der Volksschule die Freie Schul- und Werkgemeinschaft in Letzlingen. 1930 zog die Familie arbeitsbedingt nach Berlin. Hier besuchte er die Karl-Marx-Schule in Neukölln. Der Vater wurde 1931 wegen Bruch der Fraktionsdisziplin aus der SPD ausgeschlossen und gründete die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Am 5. März 1933 verschaffte sich die faschistische SA Zutritt zur Wohnung der Familie und nahm die drei Söhne gefangen. Die Eltern konnten sich mit der Tochter absetzen und flohen in die Tschechoslowakei. Die Jungen konnten aus der Geiselhaft der SA entkommen und reisten der Familie hinterher.
In stalinistischer Haft
Aus der Tschechoslowakei emigrierten Fridolin und sein Bruder Horst 1935 nach Moskau, wo sie Arbeit fanden. 1938 wurde ihnen vom Deutschen Reich die Staatsbürgerschaft aberkannt und sie versuchten die sowjetische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Doch der Zufluchtsort entpuppte sich als Falle: »Nachts vom achten zum neunten März erfolgte meine Verhaftung – ab in die Lubjanka. Verhör: ‚Du bist Deutscher, also bist du ein Spion‘», schilderte Fridolin später. Er und sein Bruder seien angeblich Mitglieder einer Hitlerjugend in Moskau gewesen. Das bei ihnen gefundene Fahrtenmesser solle die Waffe gewesen sein, mit der sie Stalin haben umbringen wollen. Nach fast einjähriger Haft im Taganka-Gefängnis erging das Urteil: acht Jahre Arbeitslager. Sein Bruder war bereits nach Workuta verschleppt worden. Fridolin wurde über Wochen strapaziöser »Reise« in den Gulag von Kolyma verbracht. Erst nach über acht Jahren kam er im September 1946 frei. Doch die Freude hielt sich in Grenzen. Denn bis Januar 1948 blieb er in Kolyma in »ewiger Verbannung«.
Im März 1948 konnte er nach Deutschland zurückkehren, wo er zunächst im Dresdner Jugendamt arbeitete und 1950 ein Jurastudium aufnahm. Mit Erika Pöschmann hatte er drei Kinder. Der jüngste Sohn (Jürgen, geboren 1953) lebte nur wenige Tage. 1954 wurde Tochter Nina geboren, die von 1954-2010 lebte. Sein Sohn Peter wurde 1956 geboren. Nach dem Jurastudium wurde Fridolin Staatsanwalt mit dem Schwerpunkt Wirtschaftskriminalität. 1960 erfolgte sein Einsatz in der Generalstaatsanwaltschaft als Berater zur Ausbildung neuer Anwälte. Er blieb der juristischen Tätigkeit bis zum Renteneintritt 1979 treu. Eine besondere Genugtuung erreichte ihn 1961: Das oberste Gericht der UdSSR rehabilitierte ihn am 12. November.
Wiederaufbau der VVN Sachsen
Die 90er wie auch die 2000er Jahre waren für Fridolin aktionsreich. So baute er gemeinsam mit Hans Lauter, Edith Sparmann, Werner Wolf und anderen die 1953 aufgelöste VVN in Sachsen wieder auf und wurde ihr erster Vorsitzender. Erlebenswert waren stets seine Vorträge, besonders auch vor Schülern und im Rahmen der Zeitzeugengespräche in Hoyerswerdaer Schulen. Dort sprach er unter anderem im Rahmen des Projekts »Wider das Vergessen« der VVN-BdA und der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Demokratie und Lebens-perspektiven (RAA) Hoyerswerda.
Seine strikte Haltung gegen Kriegspolitik zeichnete ihn aus: »Die Überlebenden der Nazi-Hölle schworen 1945 ‚Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!‘ Wir als VVN-BdA müssen darauf aufmerksam machen, dass es nicht unbedingt einer faschistischen Herrschaft bedarf, um Krieg zu führen. Und wir sollten auch die Kriegspolitik diskreditieren. Welche großen sozialen und kulturellen Leistungen könnte der Staat erbringen, wenn er das in Rüstung und Kriegsführung investierte Geld für eine den Menschen dienende Politik ausgeben würde!«, so der Ehrenvorsitzende der VVN-BdA Sachsen. Fridolin Seydewitz verstarb am 10. April 2016. Im Februar 2019 wäre er 100 Jahre alt geworden.