»Die Gewalt ist unsichtbar«
2. Februar 2021
Azad Yusuf Bingöl im antifa-Gespräch zu antikurdischem Rassismus und fehlender Solidarität
antifa: Du bist mit deinem Freund Inan vor zwei Monaten in München von türkischen Nationalisten angegriffen worden. Wie kam es dazu?
Azad Yusuf Bingöl: Inan und ich saßen am 16. Oktober in einem Linienbus und waren durch einen gelb-grün-roten Schal als Kurden erkennbar. Fünf türkische Faschisten stiegen ein und riefen uns nationalistische Parolen wie »Das Vaterland ist unteilbar« zu. Wir verhielten uns passiv, dennoch gingen die Männer sehr schnell zum Angriff über. Davon trug Inan einen Nasenbeinbruch und Verletzungen im Gesicht davon, ich Prellungen am Oberkörper. Sie gingen sehr brutal vor, was auch Außenstehende davon abhielt, einzugreifen. Letztlich war es der Busfahrer, der die Polizei rief. Fairerweise muss man sagen, dass viele im Nachhinein Hilfe angeboten sowie als Zeug:innen ausgesagt haben. Zunächst war bei den polizeilichen Ermittlungen erkennbar, dass der rassistisch motivierte Angriff relativiert wurde als Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen. Dies war aufgrund der Zeug:innen und auch wegen des öffentlichen Drucks durch Politiker*innen und Zivilgesellschaft nicht lange zu halten.
antifa: Welches Ausmaß hat rechte Gewalt gegen Kurd*innen hierzulande?
Azad Yusuf Bingöl: Die Gewalt ist unterhalb des Radars und unsichtbar. Sehr viele Betroffene sind eingeschüchtert und sprechen aus Angst nicht öffentlich darüber. Wir beobachten einen sehr starken Rassismus in der türkischen Gesellschaft. Häufig wird von den Grauen Wölfen gesprochen, doch der Schein einer abgekapselten rechten Struktur trügt. Hass auf Kurd:innen ist salonfähig unter Türk*innen – weltweit. Spezifischer antikurdischer Rassismus gehört vielfach zum Alltag und hat verschiedene Facetten. Leider gibt es keinen öffentlichen Diskurs dazu. Bei den Beratungsstellen gegen rechte Gewalt gibt es mitunter ein Wahrnehmungsproblem diesbezüglich. Dies trifft auch auf einige antirassistische Gruppe zu, wie Statements zu den NSU-Morden oder zum rechten Anschlag im Februar in Hanau zeigten. Dort wurden die kurdischen Opfer unsichtbar gemacht, was eher mit fehlender Sensibilität als mit Boshaftigkeit zu tun haben mag.
antifa: Wie sind die Täter von Angriffen, wie Ihr sie erleben musstet, organisiert?
Azad Yusuf Bingöl: Die türkische Staatsdoktrin wird von allen türkischen Rechten akzeptiert. Es lohnt ein Blick auf die drei relevantesten Strömungen: Da ist zum einem der Panturkismus, eine völkisch-rassistische Gemeinschaft, die hierzulande mit den Grauen Wölfe verbunden wird. Weiterhin aktiv ist die kemalistisch-nationalistische Bewegung, die besonders für die Huldigung der türkischen Gründungsgeschichte bekannt ist. Eine dritte Strömung, die stark an Bedeutung gewinnt, ist die türkisch-islamische Synthese. Sie speist sich aus den Kreisen von Millî Görüş. Alle diese Hauptströmungen haben deutschlandweit Strukturen, zusammen sind es hunderte Vereinigungen. Dazwischen sind lediglich Konfliktlinien im Wettbewerb nach dem Muster erkennbar, wer ist der beste Vaterlandsverteidiger oder wer ist der strammere Türke? Besonders einig ist man sich darin, diejenigen, die man als »Terroristen« beziehungsweise »Vaterlandsverräter« ausmacht, als Hauptfeinde zu betrachten. Dazu zählen Kurd*innen, Alevit*innen und Linke. Hetzjagden auf besagte Feind:innen sind dabei ein akzeptiertes Mittel. Morddrohungen und Angriffe auf Kurd:innen können vor den Augen der Öffentlichkeit häufig unkommentiert geschehen.
antifa: Gibt es Anknüpfungspunkte zu anderen rechten Gruppen in Deutschland?
Azad Yusuf Bingöl: Die gibt es, und sie haben eine lange Tradition. Hitler beispielsweise hat die Staatsgründung der Türkei in Schriften begrüßt und sah Atatürk in seinen Münchner »Kampfjahren« als »leuchtenden Stern«. Bis vor einigen Jahren gab es auch direkte Verknüpfungen. Graue Wölfe und NPD waren Schwesterparteien. Es ist auch bekannt, dass türkische Faschisten gemeinsam mit deutschen Neonazikameradschaftlern Angriffe auf Linke und Kurd:innen verübt haben. Hier wird deutlich, dass sie das gleiche Weltbild haben. Rassismus und Antisemitismus sind hier wie dort zentrale ideologische Säulen.
antifa: Die Türkei führt seit langem einen brutalen Krieg gegen Kurd:innen, zugleich ist das Land ein enger NATO-Partner der BRD. Welche Rolle spielen diese Verflechtungen für die Kurd:innen hierzulande?
Azad Yusuf Bingöl: Hier muss ich auf das PKK-Verbot zu sprechen kommen. Es ist in der BRD verfügt worden, weil sich diese in dem besagten Krieg seit jeher auf die Seite Ankaras stellt, trotz der Massaker und Genozide an Kurd*innen. In der Zeit, als tausende Dörfer mit deutschen Waffen niedergebrannt und zerstört wurden, hat man hier die kurdische Community verfolgt. Deren Öffentlichkeitsarbeit und Selbstorganisierung wurden kriminalisiert. Auch in der jüngsten Zeit, als es international mehr Einigkeit bei der Einschätzung gab, dass der Krieg beispielsweise in Rojava oder in Südkurdistan (Nordirak) völkerrechtswidrig ist, hat der deutsche Staat am Bündnis festgehalten. Insofern ist die BRD in den Augen der Kurd*innen auch mitverantwortlich für deren Situation und verübte Verbrechen. Die deutsch-türkische Partnerschaft bei Wirtschaft sowie Militär werden wir also weiterhin benennen und uns nicht einschüchtern lassen.
Das Interview führte Andreas Siegmund-Schultze