Erinnerungsarbeit
3. Juli 2021
Mit Lektüre: Fragen an die Vergangenheit und an uns selbst
Die Autor_innen des Buchs »Fatale Männlichkeiten – kollusive Weiblichkeiten« erschlossen sich als sozialwissenschaftlich und psychotherapeutisch beruflich Tätige in jahrelanger Gruppenarbeit die »Früh«geschichte des politischen Agitators und späteren NS-Diktators Adolf Hitler. Auf der Basis historischer Dokumente erarbeitete sich die Arbeitsgruppe den »frühen« Hitler von 1919 bis 1933. Es ist ein Ausschnitt zu einer Täterbiografie aus der Perspektive einer Gruppe von Kriegs- und Nachkriegs-»kindern«.
Das Buch »Männerphantasien« wurde in den 70er Jahren geschrieben; es ist ein Klassiker der Faschismus- und Männerforschung. Klaus Theweleit, der Autor, ist als »Kriegskind« geboren und hat sich in der 68er-Studentenbewegung politisiert. Das Buch präsentiert eine kritische Analyse des nationalsozialistischen Männerbildes. Biografische Dokumente der zwischen den beiden Weltkriegen mit Straßenterror wütenden Freikorps werden hierfür inhaltsanalytisch ausgewertet. Theweleit skizziert dabei den Prototyp des deutschen soldatischen Mannes, der mit einem »Körperpanzer« seine Gefühlswelt verdrängt und mit Hass auf alles, was anders ist als er, Leben zerstört. Im Jahr 2019 legte er einen Neudruck mit einem langen Nachwort vor. Beide Bücher zeigen die Vorgeschichte des nationalsozialistischen Staatsterrors. Sie fokussieren sich auf NS-Taten und -Täter.
Das Buch »Von der letzten Zerstörung« ist ein Nachdruck, der direkt nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus gegründeten jüdischen Zeitschrift Fun letst churbn, die von 1946 bis 1948 (Über-)Lebensberichte von Juden gedruckt hatte. Hier kommen die NS-Opfer zu Wort. Diese verstörenden Erfahrungsberichte der vom NS-Staatsterror Verfolgten wurden damals in Deutschland so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Die Zeitschriftenreihe aus den späteren 40er Jahren wurde ins Deutsche übersetzt und -Ende 2020 als kompaktes Buch erneut veröffentlicht.
Fatale Männlichkeiten
Männerbündische Konkurrenzgemeinschaften – insbesondere seit dem Aufstieg des Preußentums im Deutschen Reich – bildeten den Nährboden einer Männerrolle, die den Soldaten als Goldstandard von Männlichkeit prägte. Dieser Soldat, der weder Gefühle zulassen noch Schwäche zeigen darf, war für den politischen Agitator Hitler im Ersten Weltkrieg das willkommene Sozialisationsregime, um das zu werden, was er als NS-Diktator mit unvorstellbarer Gewaltsamkeit wurde.
Die Autorin Lerke Grafenhorst und ihre vier Mitautor_innen haben sich mit einem starken Fokus auf die Person des »frühen« Hitlers in der Zeit von 1919 bis 1933 darum bemüht, das Entsetzliche und das Verstörende schon in der Planung der NS-Herrschaft zu reflektieren. Das Manuskript wurde in einer mehrjährigen Arbeit seit 2012 innerhalb der Gruppe permanent diskutiert. Aus der persönlichen Betroffenheit über die Geschichte des Nationalsozialismus generierte sich innerhalb der Resonanzgruppe ein Erkenntnisprozess: Dabei bedeutet der Gruppe der Begriff »fatal« im Titel »fatale Männlichkeit« tödliche Männlichkeit, und »kollusiv« steht für mitwirkende Weiblichkeit; gemeint ist ein Zusammenwirken von männlicher Täterschaft und weiblicher Mittäterinnenschaft.
Die Gruppe legt in der Einführung ihre Leitthese vor: » (…) fatale Männlichkeit verstehen wir als gegen Menschlichkeit, wesentlich gegen Weiblichkeit, aber auch gegen nicht-fatale Männlichkeiten gerichtet, angetrieben durch Vernichtungswut und Identifikation mit den auf Tod orientierten Männlichkeiten (Töten ist Selbstzweck). Eine spezifische Ausformung davon ist dann eine an der ›Rasse‹ als Kampfeinheit orientierte Männlichkeit, wie sie der frühe Hitler behauptete« (Seiten 15/16).
Sie zitiert Hitler aus dem ersten Band von »Mein Kampf« (1925): »Im ewigen Kampf ist die Menschheit groß geworden – im ewigen Frieden geht sie zugrunde« (S. 72). Die tötungs- und vernichtungsfixierte Ideologie des Nationalsozialismus ist, wie die Resonanzgruppe hervorhebt, eingeschrieben in eine Tötungsnotwendigkeit und Tötungsfähigkeit deutscher Männlichkeit dieser faschistischen Epoche. Das Kampfkonzept des »frühen« Hitler wird aus dem Pamphletwerk »Mein Kampf« exemplarisch zitiert: »Wer den Kampf nicht besteht, hat sein Leben verwirkt« (S. 69).
Diese paranoide Raserei des politischen Agitators war bereits in den 20er Jahren bekannt. Hitler hatte klar umrissene Kampf- und Vernichtungspläne. Die Autor_innengruppe lässt keine Zweifel aufkommen, dass diese Pläne (nahezu) jedem Menschen in Deutschland bekannt gewesen waren. Wesentlich zu kurz gekommen ist in dieser Publikation die Thematisierung der Mittäterinnenschaft der Frauen. »Kollusive« Weiblichkeiten werden im Text fast gar nicht erörtert – nur wenige Beispiele (z. B. Winifred Wagner) werden genannt.
Männerphantasien
Das Buch »Männerphantasien« von Klaus Theweleit wurde zum ersten Mal 1977 veröffentlicht, es wurde binnen kürzester Zeit zum Klassiker der Faschismus-, Gewalt- und Männerforschung. Der Autor – Sohn eines »faschistischen Vaters« (S.10) und nonkonformer Aktivist der 68er-Studentenbewegung – hatte damit eine beeindruckende Theoriecollage über den »faschistischen Mann« vorgelegt. Grundlage seiner Studien war eine inhaltsanalytische theoriegestützte Auswertung von Dokumenten und Schriften verschiedener Freikorps-»Größen« in den 20er Jahren der Weimarer Republik – sie waren Wegbereiter des Faschismus.
Theweleit beschreibt auf mehr als tausend Seiten komplexe Antworten auf komplexe Fragen: »Wie macht man aus einem Jüngling einen Soldaten? Welcher Art ist nun die Sexualität des Soldaten, welche Vorgänge während des Tötungsakts sind es, die ihm Lust verschaffen, die er woanders nicht mehr finden zu können scheint?« (S. 693). Und er spitzt diese Fragen zu auf die ehemaligen Soldaten in den Freikorps der 20er Jahre der Weimarer Republik – also die Zeit auch des »frühen« Hitler. Der soldatische Mann dieser Zeit, der dem Nationalsozialismus den Weg mitbereitete, war, so Theweleit, mit einer immens gestörten Psyche und Körperlichkeit aufgewachsen, hatte einen »Körperpanzer« (S. 370) – gestählt gegen innere Gefühle und voller Hass auf alles, was er als »weiblich« etikettierte. Emotionale Bindung und Verbundenheit wurden/waren (aus-)gelöscht. Theweleit: »Die ungenügende Erotisierung der Körperfläche durch mangelnde Zuwendung zum Kleinkind – und sie scheint gegen Ende des 19. Jahrhunderts fast zur allgemeinen Regel geworden sein – bezeichnet eine neue Phase in dem Prozess der »Panzerung« des Körpers (…) Es entsteht ein Körper ohne Gefühl seiner psychischen Grenzen: die eigene Peripherie wird nicht oder nur teilweise und unsicher besetzt. Die Grenze, die die Körper dennoch bekommen, wird von außen gezogen, von den Drillinstanzen der imperialistischen Gesellschaft«. (S. 513)
Gut 40 Jahre später (2020) folgte die Neuveröffentlichung des unveränderten Werkes – aber mit einem mehr als hundertseitigen Nachwort. Das Buch komplett zu lesen, verlangt einiges ab. Es ist eigentlich überkomplex in seinen vielfältigen Facetten. Gegliedert ist die Publikation in zwei große Teile: Teil 1 mit der Überschrift »Frauen und Männer«, Teil 2 mit der Überschrift »Die Masse und ihre Gegenbildungen«. Theweleit richtet am Ende seines Nachworts die Aufmerksamkeit auf die neofaschistischen »Killer« des 21. Jahrhunderts: »ob beim betrunkenen Rentner oder dem smarten NSU-2.0-Profi; oder dem US-amerikanischen Highschool-Killer (…) Allerdings sind ›Schizophrenie‹ oder ›paranoid-narzistische‹ Störung verfehlte Etikette dafür, um nicht zu sagen, idiotisch; mit Sicherheit aber verdrängende« (S. 1.275). Man kann zu den Überlegungen Theweleits stehen, wie man will: Auf jeden Fall will er Gesellschaftliches nicht individualisieren, psychiatrisieren. Er mutet uns – kontextualisiert – Fragen nach den in uns verbliebenen Anteilen der NS-Gewalt zu.
Von der letzten Zerstörung
Die von Frank Beer und Marcus Roth (2021) herausgegebene Publikation »Von der letzten Zerstörung« ist der sorgfältig editierte Nachdruck der von 1946 bis 1948 erschienenen Zeitschriftenreihe Fun letstn churbn über Erfahrungen der Juden im Holocaust. Die Begriffe »Holocaust« und »Shoah« gab es noch nicht, als sich die beiden im Nazireich verfolgten Juden Israel Kaplan und Moysche Faygenbogen nach der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten im Rahmen der »Historischen Kommission beim Zentralkomitee der befreiten Juden« in Bayern dem Projekt verschrieben, diese Zeitschriftenreihe zu gründen, um Zeit- und Augenzeugen über ihre Lebensschicksale in der NS-Diktatur berichten zu lassen. Diese Zeitschrift erschien insgesamt zehn Mal und war in Jiddisch mit hebräischen Lettern geschrieben. Das Interesse in Deutschland hielt sich in Grenzen, schon wegen der jiddischen Sprache, aber wohl noch viel mehr wegen der damaligen Unfähigkeit, NS-Schuld überhaupt anzunehmen. Das beherrschende Motto im Nachkriegsdeutschland war: Amnestie und Amnesie.
Diese Gesamtpublikation im Umfang von 1.032 Seiten ist ein bleibendes historisches Mahnmal aus der Perspektive jüdischen Lebens und Sterbens – vorwiegend in Polen und im Baltikum. Es ist Erinnerungskultur, und es ist Erinnerungsarbeit, wenn wir uns den unsäglichen Leiderfahrungen der Überlebenden zuwenden. Es ist ein vieltausendstimmiges Klagelied. Erschütternde Berichte über Massaker, Todesmärsche, Aufstände und »Alltägliches« in den Ghettos und Vernichtungslagern als Oral History dokumentiert – in all diesen Dokumenten ist der subjektive Kern der Leiderfahrungen der Berichtenden weiterhin spürbar. Im 2. Heft berichtet etwa Abraham Vaisbrod unter dem Titel »Weinende Gräber« über ein Massaker in Ostgalizien:
»Die weinenden Gräber befinden sich unweit des Schtetl Skalat auf einem großen Feld. Und obgleich sie ewig verstummt sind, schreit der Ort weiter und erzählt von dem, was dort geschah, so wie Dutzende und Hunderte andere Orte neben ihm – sie haben viel, sehr viel zu erzählen, ihr Schrei ist ohrenbetäubend und ihre Mahnung von außerordentlicher Nachdrücklichkeit (…) Für uns haben die Gräber noch nicht aufgehört, zu weinen« (S. 147). Damit ist alles ausgesprochen. Wenn Verbrechen wie die des kommandierenden SS-Sturmbannführers möglich werden, dann belegen sie die Barbarei der verkümmerten – nicht zu Ende geborenen – menschenverachtenden Männlichkeit.
Warum hat die Generation unserer Väter und Großväter sich bereit gefunden, Handlungen wie dieser Sturmbannführer in Ostgalizien zu vollziehen oder schweigend zuzulassen? Diese Frage immer wieder zu stellen und nach Antworten zu suchen, ist unsere Aufgabe.
Für das Nachdenken über Erinnerungskultur hat Harry Friebel die nachfolgenden drei Bücher ausgewählt in der Annahme, dass gerade die implizite Spiegelung von »Täter«- und »Opfer«-Perspektive – vermittelt durch Theoriefacetten – den Zivilisationsbruch des NS-Regimes erschließbar macht. Das innere Band für die drei Bücher ist der NS-Zivilisationsbruch.
Selbstporträt des Autors
Als »Kriegskind« wurde ich im Oktober 1943 geboren. Mein Vater war Gefreiter bei der NS-Wehrmacht im 2. Weltkrieg. Bis 1944 war er in seinen Knobelbechern ostwärts gestürmt. Dann kam er in sowjetische Kriegsgefangenschaft – nach Sibirien. Voller alter Geschossreste lebte er danach nur noch ein paar Jahre. Es kam nie ein Wort zur NS-Diktatur über seine Lippen. Mein Vater hat sich offensichtlich mit aller Konsequenz dem Nationalsozialismus hingeben wollen, hingegeben. Mit Klaus Theweleit frage ich mich: »Was und wie viel vom körperlich terroristischen Vater steckte im eigenen Leib? Wie viel davon war man losgeworden? Und mit wessen Hilfe?