Notizen aus dem KZ
6. November 2021
Briefe jüdischer Häftlinge des KZ Auschwitz-Birkenau
Die Belege zum Arisierungswahn der Nationalsozialisten sind in der Regel kaum zu ertragen und entziehen sich unserem Verstehen. Das Buch »Briefe aus der Hölle« ist nun noch einmal eine Steigerung dieser Zeugnisse des Grauens. Pavel Polian hat in seiner Publikation alle bisher entdeckten Briefe, Notizen und Berichte von ehemaligen Angehörigen des »Sonderkommandos« im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zusammengeführt und historisch kontextualisiert.
Die Angehörigen des Sonderkommandos – jüdische Häftlinge – waren von der SS dazu gezwungene »Wächter der Höllenpforte«. Sie mussten den Henkersdienst der Vernichtungsmaschine Auschwitz-Birkenau leibhaftig erfüllen: Unter bewaffneter Aufsicht der SS führten sie hunderttausende insbesondere jüdische Häftlinge in die Entkleidungsräume, anschließend zwangen sie sie in die Gaskammern. Danach verbrachten sie die Leichen in die Verbrennungsöfen der Krematorien. Abschließend »entsorgten« sie die Asche der Ermordeten. Täglich begleiteten sie so tausende Opfer in dieser grausamen Passage: Deportation nach -Auschwitz-Birkenau, Ermordung in den Gaskammern, Verbrennung der Leichen in den Krematorien, »Entsorgung« der Asche im Erdreich des Lagers.
Der aus Warschau stammende und 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportierte polnische Jude Herman Strasfogel schrieb als Mitglied dieses Sonderkommandos in seinem – Mitte Februar 1945 im Areal des Lagers entdeckten – heimlichen Brief an seine Familie: »Seitdem ich mich hier befinde, glaube ich nicht mehr an die Möglichkeit der Rückkehr, ich wusste, wie wir alle, dass jede Verbindung zur anderen Welt unterbrochen ist, dass hier eine andere Welt ist. Wenn ihr so wollt, ist das eine Hölle, doch ist die Hölle von Dante unwahrscheinlich lächerlich im Vergleich zur echten Hölle hier, und wir sind Augenzeugen, die nicht überleben dürfen. Bei alldem bewahre ich mir dann und wann ein Fünkchen Hoffnung …«.
Dieses Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau bestand aus bis zu 800 Männern. Die Mitglieder – umgangssprachlich »Leibwächter« oder »Chewra Kadischa« genannt – waren selbst totgeweihte Juden, weil sie – als Zeugen dieses Massenmordes – in regelmäßigen Abständen liquidiert wurden.
Das Buch »Briefe aus der Hölle« dokumentiert für die Nachwelt die von sechs ehemaligen Angehörigen des Sonderkommandos heimlich verfassten schriftlichen Zeugnisse. Diese Dokumente des Grauens lagen in der Erde des Lagers vergraben und wurden nach der Befreiung durch die Rote Armee von verschiedenen Personen mehr oder weniger zufällig entdeckt. Zeugen zufolge könnten noch weitere solcher Dokumente im Erdreich des Lagers liegen.
Die nach der Befreiung durch die Rote Armee gefundenen, entzifferten und übersetzten Dokumente wurden sukzessive auch der Holocaustforschung zur Verfügung gestellt.
Die Entdeckungs- und Publikationsgeschichte dieser Schriften wurde – so schreibt Pavel Polian in seinem Buch – selbst zum Politikum: »Alle diese Editionen tragen im vollen Maß den Stempel der polnischen Zensur, besonders der 50er und 60er Jahre. Eine gründliche Revision der verschiedenen Varianten der polnischen Textversion ist noch nicht vorgenommen worden, doch schon der Abgleich des polnischen Korpus mit den hier veröffentlichten russischen – den unzensierten, aber vom Einfluss irdischer Feuchte Betroffenen« – hat politisch-ideo-logische Veröffentlichungsvorbehalte offengelegt. Zudem unterliegt die Lesbarkeit der Texte bis heute einem Wandel im Sinne eines ständigen Zuwachses durch neue technische Möglichkeiten. Bis etwa 2015 lag der Lesbarkeitsgrad bei 50 bis 60 Prozent. Aktuell lässt eine spezielle Hyperspektralaufnahme (S. 554) eine Entzifferung von bis zu 90 Prozent zu. Es ist also noch mit weiteren Erkenntnissen für die Forschung zu rechnen.
Das Buch »Briefe aus der Hölle« besteht – neben einer Einleitung durch den Historiker Hans-Heinrich Nolte – aus drei Hauptteilen: Zunächst wird die Leser:innenschaft detailliert in die Biografie der Chronisten vor und nach ihrer Deportation nach Auschwitz-Birkenau eingeführt. Außerdem wird die Entstehungs- und Verwertungsgeschichte der Dokumente beschrieben.
Dem folgen auf etwa 400 Seiten die ins Deutsche übersetzten Texte der sechs Chronisten aus dem Sonderkommando: Salmen Gradowski, Leyb Langfuß, Salmen Lewenthal, Herman Strasfogel, Marcel Nadjari und Abraham Levite.
In einem abschließenden systematisch gegliederten Anhang befindet sich eine objektive Chronologie der Ereignisse von der Einrichtung des Konzentrations- und Vernichtungslagers 1939, über die Befreiung im Jahre 1945, bis zum Jahre 2019 – sowie eine Übersicht der bisherigen Veröffentlichungen zum Thema und schließlich ausgewähltes Karten- und Fotomaterial.
Pavel Polian hat mit diesem Buch eine bedeutende Edition vorgelegt, die die Erinnerungsarbeit an das NS-Regime als Erinnerungslesearbeit zum Verständnis von Auschwitz-Birkenau fördert.