Rückkehr der Atomwaffe
6. November 2021
NATO-Generäle schreiben Romane. »Military Thriller« als Science-Fiction-Genre
Kaum in Pension, lieferte der zweithöchste NATO-General, der Brite Richard Shirreff, 2016 einen Roman über den nächsten Krieg mit Russland. Dies war vermutlich Ansporn für seinen guten Bekannten, den ehemals höchsten NATO-Militär, General James G. Stavridis, ihm nachzueifern und seinerseits den nächsten Weltkrieg und zwar mit der VR China aufs Papier zu bringen.
Die stark angloamerikanisch geprägten »Military Thriller« bilden streng genommen eine Untergruppe der Science-Fiction, wobei ihre Handlungen typischerweise in der »nahen Zukunft« angesiedelt sind. In jeder Hinsicht ist das Genre dem tatsächlichen Militär eng verbunden und damit natürlich im weitesten Sinne promilitär, wenn nicht offen militaristisch. Seine Autoren (weibliche scheint es zumindest unter Klarnamen nicht zu geben) pflegen enge Kontakte zum Militär, und umgekehrt werden die Romane insbesondere sehr häufig von Angehörigen der Streitkräfte gelesen. Wie Thriller im allgemeinen folgen sie Konventionen: Harte Kerle (mittlerweile häufig weiblichen Geschlechts) treffen einsame Entscheidungen, um den Angriff eines finstere Absichten hegenden Gegners zurückzuschlagen. Dieser verfügt außer dem Überraschungsmoment häufig noch über weitere taktische Vorteile, die die clevere amerikanische Seite zu überwinden hat, was gerne viele hundert Seiten lang anhält. Sozusagen dankbar aufgenommen (endlich mal wieder ein anständiger Gegner) werden die chinesischen und besonders die russischen Aufrüstungsprogramme mit ihrem Schwerpunkt auf futuristischen Waffensystemen, was die althergebrachte Rollenzuschreibung von Ost und West umkehrt. Die frühere US-amerikanische technologische Überlegenheit ist jedenfalls im Roman erledigt.
Fiktion als Zukunftslabor
Die eigentliche brisante Bedeutung des Genres besteht allerdings in etwas anderem. Militärische fiktionale Literatur war von Anfang an und ist bis heute ein Zukunftslabor, Proberaum und Spielzimmer des Krieges. Die Hypothese sei gewagt, dass schlicht jedes Waffensystem, jede Feindkonstellation und jeder Angriffskrieg an irgendeiner Stelle literarisch vorgedacht wurde. Beispielsweise kroch der erste Panzer 1907 in einer Kurzgeschichte von H. G. Wells über das Schlachtfeld, ein Jahrzehnt bevor es wirklich soweit war. Allerdings sah dieser ganz anders aus als sein literarischer Impulsgeber, und damit ist man schon bei der Krux des Ganzen. Es ist zum Veröffentlichungszeitpunkt schwer abzuschätzen, welche der Romanideen völliger Unfug sind, welche glasklar die Zukunft zeigen und welche – das ist die Mehrheit – einzelne Elemente richtig, aber in der falschen Melange vorstellen. Das zweite große Problem besteht darin, dass das Heraufbeschwören eines Konflikts bedeuten kann, dass der Autor ihn anstrebt, genauso aber, dass er ihn mit der Darstellung bannen und verhindern will. Einmal Veröffentlichtes kann nicht zurückgenommen werden, wird mit Sicherheit vom potentiellen Gegner auch gelesen und in die eigenen Planungen einbezogen.
Kriegspläne ausbrüten
In Shirreffs Fall geht es um die Einverleibung des Baltikums durch die Russische Föderation und die Reaktion der NATO-Streitkräfte. Der Höhepunkt des Romans – hier hemmungslos verraten – besteht in einer Kommandoaktion gegen die russischen atomar bestückten Kurzstreckenraketen im Kaliningrader Gebiet. Klar, dass sich die Idee damit in der Praxis erledigt hat, was der Autor, der ja wie alle Generalstäbler der Welt echte geheime Kriegspläne ausgebrütet hat, sicher gern in Kauf nahm, weil er sie ohnehin für undurchführbar hielt.
Literarisch langatmig, politisch aber spannend, ist seine Schilderung der NATO-Entscheidungsstrukturen, insbesondere des Einstimmigkeitsprinzips. Der »Verteidigungsfall« tritt nämlich nur dann ein, wenn alle Mitglieder dies auch so wollen, einschließlich Deutschland, dem pazifistischen Schreckgespenst des Genres. Dies steht in krassem Gegensatz zum russischen Ein-Personen-Entscheidungsmodus, der viel schnellere und effektivere, aber nicht unbedingt klügere Ergebnisse zeitigt. So sehr der General Wladimir Putin offenkundig verabscheut, richten sich seine Befürchtungen allerdings noch mehr auf das, was diesem folgen könnte. Respekt und eine gute Portion Bewunderung vor russischer Entscheidungs- und Organisationsstärke und auch ein Stück weit Verständnis für russische Motive zeichnen nicht nur Shirreffs Werk aus, sondern lassen sich im Genre bis in die Zeit des Kalten Kriegs zurückverfolgen.
Stavridis’ im Jahr 2034 angesiedelter und deutlich spekulativer angelegter Roman ist hingegen ein Beispiel dafür, wie schwer sich westliche Autoren mit China tun. Es ist ihm eine unheimliche Macht, schwer greifbar sowie einschätzbar und damit deutlich unberechenbarer als die russische Seite. Man füge hier noch den Einsatz »taktischer Atomwaffen« hinzu, und fertig gepflastert ist der Weg zur Apokalypse, den Stavridis auch geht. Am Ende des Buches gibt es keinen Sieg der USA, soviel Realismus hat er. Alles in allem sind die Generäle in guter Kenntnis der Risiken weniger kriegslustig als manche Politiker.
Beide Bücher wurden zu Bestsellern, was nicht an der literarischen Qualität liegen kann. Hält sich Shirreff noch einigermaßen im Mittelfeld des Genres, ist Stavridis Werk schriftstellerisch indiskutabel. Doch was ist das eigentlich für eine Art von Roman?