Chile: Gefahr gebannt
7. Januar 2022
Präsidentschaftswahlen zwischen Massenprotesten und Verfassungskonvent
Das südamerikanische Chile wurde lange als Experimentierfeld des Neoliberalismus für die Privatisierung der Wirtschaft und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse missbraucht. Das vom Gedankengut der sogenannten Chicago Boys geprägte System wurde während der Pinochet-Militärdiktatur (1973–1990) auf brutalste Weise durchgesetzt und bedeutete einen Rückschlag für den sozialen Fortschritt im Land. Gesundheit, Bildung und die Altersversorgung wurden zur Marktware degradiert, und sollten dem Zweck der Gewinnerzielung dienen. Die Rolle des Staates wurde auf ein Minimum reduziert, und die Wohlfahrt fiel räuberischen Unternehmen und einigen wenigen kapitalstarken Familien zum Opfer, die rücksichtslos sowohl Mensch als auch Natur zu Profitzwecken einsetzten. Auch nach der Beendigung der Pinochet-Diktatur wurde diese Wirtschafts- und Sozialpolitik beibehalten.
Der aktuell amtierende Präsident Sebastián Piñera pries Chile noch als die Oase Lateinamerikas, in der sozialer Frieden für die Sicherheit der Investoren bürge, als es wenige Tage später zum Ausbruch massiver sozialer Proteste kam, die das Land am 18. Oktober 2019 in einen Flammenherd verwandelten.
Fünf Prozent mit 95 Prozent des Einkommens
Die Gründe hierfür lagen auf der Hand: In einem Land, in dem 95 Prozent des nationalen Einkommens auf nur fünf Prozent der Bevölkerung verteilt sind, und diese Ungleichheit von der Politik nicht nur verteidigt, sondern auch noch gefördert wird, musste die angesammelte Unzufriedenheit letztendlich ihren Höhepunkt auf riesigen Protestmärschen finden.
Bedroht durch die Mobilisierung wurde nicht nur die amtierende Regierung. Vielmehr richtete sich der Zorn gegen die Gesamtheit der politischen Klasse, die soziale Forderungen ignoriert und ihre Mandate hauptsächlich zur persönlichen Bereicherung missbraucht. Nach anfänglicher Kriegserklärung durch die Regierung gegen die Proteste, die nur zu noch stärkeren führte, musste die politische Elite einen institutionellen Ausweg finden und rief im Mai 2021 zu Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung. Der Auftrag an die 155 Mitglieder lautete, den noch aus der Militärdiktatur stammenden Gesetzestext, neu zu formulieren.
Die bisherige Arbeit dieser verfassunggebenden Versammlung zielt auf mehr Demokratie, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und Respekt gegenüber Minderheiten. Aber sie wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Auch wegen der von der Regierung auferlegten Rahmenbedingung und wegen des Widerstand der reaktionären Ultrarechten, die unermüdlich versuchen, den Verfassungskonvent zu diskreditieren.
Kandidat mit brauner Familiengeschichte
Unter diesem Stern stand die Präsidentschaftswahl in Chile seit November 2021. Die Konservative Rechte, von Macht- und Privilegienverlust bedroht, unterstützte den Ultrarechten Kandidaten José Antonio Kast trotz oder gerade wegen dessen faschistischen Hintergrunds. Sein Vater war Mitglied der NSDAP und Wehrmachtsoffizier, der nach dem Krieg nach Chile emigrierte. Die Familie Kast ist verantwortlich für Mord und Folter von Hunderten Chilenen unter der Gewaltherrschaft Pinochets. Kast stand in der Stichwahl am 19. Dezember dem linken Aktivisten Gabriel Boric, der für die Parteikoalition »Apruebo Dignidad« (Ich stimme der Würde zu) antrat, gegenüber.
Die sich im Wesentlichen in der Hand der konservativen Elite befindenden Massenmedien Chiles sorgten bei der resignierten und entpolitisierten Wählerschaft für Panik vor einem politischen Wandel. So wurde, wie in Zeiten des Kalten Krieges, das Schreckgespenst des Kommunismus genauso beschworen, wie die große Masse der Demonstranten in den Berichtserstattungen zu gewaltbereiten Vandalen degradiert wurde.
Der demokratische und fortschrittliche Teil der chilenischen Bevölkerung ist sich der Gefahr bewusst, die der ultrarechte Kandidat Kast für die Demokratie und alle bisher erreichten Fortschritte darstellte. Gerade deshalb stellen wir uns vereint gegen den Faschismus und gegen die reaktionären Kräfte, die von einer Regierung ausgehen, die nur dem Selbstzweck dient und deren politische Klasse fest in der Verfassung Pinochets verankert ist. Am 19. Dezember wählten 55 Prozent der Chilenen den Kandidaten der vereinigten Linken, Gabriel Boric, zum neuen Präsidenten (die Amtszeit beginnt am 11. März 2022) und zeigten damit, dass auch ein anderer Weg möglich ist. In der Überzeugung, dass die Hoffnung die Angst besiegt, sagen wir weiterhin nein zum Faschismus.