Die unbenannte Norm
7. Januar 2022
Ein kluges, emotionales Theoriebuch, das Debatten um Antisemitismus nachzeichnet
Judith Coffrey und Vivien Laumann ist mit dem vorliegenden Buch nicht nur eine innovative und fundierte Theoriebildung gelungen, sondern eine differenzierte Kritik am aktuellen Sprechen über Antisemitismus und die eigene Positionierung – auch innerhalb linker Kontexte. Ein Buch zum Weiterdenken, darüber reden und die eigene Praxis reflektieren.
Die Autorinnen führen den Begriff Gojnormativität ein. »Goj« ist die jüdische Bezeichnung für Nicht-Jüdinnen. Gojnormativität wird genutzt, um »die unmarkierte Norm des Nicht-Jüdischen oder der nicht-jüdischen Perspektive zu bezeichnen, zu kritisieren sowie zu reflektieren« (S. 56). Es geht Coffrey und Laumann nicht darum, Antisemitismus als Begrifflichkeit, die ein Herrschaftsverhältnis und eine Ideologie beschreibt, zu ersetzen, sondern ihr Anliegen ist es, Gojnormativität als ein Produkt einer antisemitisch strukturierten Gesellschaft zu verstehen. Sie zeigen auf, wie sich die vermeintliche gesellschaftliche Norm oft einer Benennung entzieht, sei es in Bezug auf geschlechtliche Orientierung oder aber auch mit Blick auf Rassismus. Angelehnt an Diskurse aus der kritischen Weißseins-Forschung oder auch der Heteronormativitätskritik geht es darum, die dominante Position in einem Herrschaftsverhältnis zu greifen. Als politische Intervention und zur Stärkung jüdischer Perspektiven nutzen Coffrey und Laumann den wichtigen Begriff der Gojnormativitätskritik.
Es werden aktuelle Theoriedebatten über die Verortung von Antisemitismus als eigenständiges Herrschaftsverhältnis, welches sich nicht unter dem Begriff des Rassismus fassen lässt, nachgezeichnet und die jeweilige Kritik an der Eigenständigkeit von Antisemitismus entkräftet. Der Vorwurf, dass Juden_Jüdinnen privilegierte Positionen einnehmen und einfordern würden, indem sie mit Antisemitismus einen eigenständigen Begriff nutzen, wird in seinen antisemitischen Konnotationen demontiert und aufgezeigt, dass sich zum Beispiel aktuelle verschwörungsideologische Elemente des Antisemitismus nicht über einen Rassismusbegriff fassen lassen. Ebenso verhindert die Subsumierung unter Rassismus als Herrschaftsverhältnis den Blick auf Juden_Jüdinnen, die als BIPoC1 sowohl Rassismus als auch Antisemitismus ausgesetzt sind. Diese fehlenden Perspektiven werden in aktuellen Diskursen rund um Intersektionalität ergänzt. Mit diesem Begriff wird die Überschneidung und Verflechtung unterschiedlicher Herrschaftsverhältnisse und die daraus resultierenden Positionierungen bezeichnet. Am bekanntesten ist dabei die Verschränkung von Rassismus, Sexismus und Klassismus, wobei die Autorinnen sich dafür aussprechen, Antisemitismus als weitere Achse in der Analyse konsequent mitzudenken. Mit einer umfangreichen und wertvollen Quellenarbeit, die wissenschaftliche Analysen und aktivistische Beiträge zusammenführt, argumentieren die Autor*innen dafür, die inhärente Heterogenität von jüdischen Positionierungen in der Debatte auszuhalten, und dabei solidarisch auf der Seite der von Antisemitismus Betroffenen zu stehen.
Besonders berührt das Kapitel zu Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten. Auch hier wird das vermeintliche Bild der Privilegierung aufgegriffen. Festgemacht wird dies an dem Vorwurf, Juden_Jüdinnen könnten sich aussuchen, ob sie die eigene Abweichung von der weißen, gojnormativen Dominanzgesellschaft sichtbar machen wollen oder nicht: »Diese Aufforderung, sich unsichtbar zu machen oder zu bleiben, um an der weißen Norm partizipieren zu können, fühlt sich an wie ein Auftrag, sich weiter zu verstecken. Und das ist unter anderem aus historischen Gründen höchst problematisch.« (S. 100)
Die Unsichtbarkeit und Unsichtbarmachung jüdischer Perspektiven führt im Kontext der deutschen Geschichte auch dazu, dass aktueller Antisemitismus nur schwer besprechbar ist, was sich daran zeigt, dass im öffentlichen Diskurs »Antisemitismusvorwürfe« stärker verurteilt werden als alltäglich erlebter Antisemitismus. Besonders hervorzuheben ist das wertvolle und sich verletzlich machende Teilen persönlicher Erfahrungen der Autorinnen. Diese dienen dabei nicht nur der Illustration der Theoriebildung im Buch, sondern begleiten, unterstreichen und untermauern die Notwendigkeit der Analysen.
Ein unglaublich kluges und wertvolles Buch, welches für gojpositionierte Personen ebenso einen Überblick über aktuelle Debatten wie auch viele Denkanstöße bietet. So möchte ich allen Gojim, also Nicht-Juden, ans Herz legen, dieses Buch zu lesen, darüber mit anderen zu sprechen und sich mit der eigenen Dominanzposition über die reine Benennung hinaus auseinanderzusetzen.
1 Black, Indigenous and People of Color