Bastion der Kritik
4. September 2022
Interview zum Bundeskongress für studentische Bildung
antifa: Im Juli fand in Wiesbaden ein studentischer Kongress zur Bestandsaufnahme der politischen Bildung an Hochschulen statt. Wer war da, und was ist im universitären Kontext überhaupt politische Bildung?
Sebastian Zachrau: Unter »politischer Bildung« wird oft so etwas wie »Staatsbürgerkunde« verstanden: was im Grundgesetz steht, wie Regierung, Gerichte und Parlamente funktionieren sollen. Wenn es hoch kommt, wird noch ein Abgleich zwischen diesem Ideal und der Realität vorgenommen, wo dann etwa über geringe Beteiligung bei Wahlen geklagt wird. Wir wollen die Kommiliton*innen aber nicht zu braven Bundesbürger*innen erziehen, sondern sie zur materialistischen Gesellschaftskritik befähigen: Welche Kräfte wirken auf welche Weise in dieser Gesellschaft? Wie entstehen politische Idealvorstellungen und was verhindert ihre Verwirklichung? Dazu kamen Studierende aus dem ganzen Bundesgebiet zusammen: aus Augsburg, Dresden, Bonn, Siegen, Freiburg und vielen weiteren Orten. Der Kongress gab Gelegenheit für Austausch, Vernetzung und Diskussion.
antifa: Was passiert an den Hochschulen? Was ist denn Anspruch und Wirklichkeit studentischer politischer Bildung?
Sebastian: Wir nehmen wahr, dass in (Hoch-)Schulen Bemühungen unternommen werden, den politischen Gehalt von Erkenntnissen zu relativieren, zu verdrängen und aus dem Curriculum zu streichen. Es wird eine Trennung von »deskriptiven« (beschreibenden) und »normativen« (wertenden) Aussagen vorgenommen, und nur das Deskriptive als Gegenstand der Wissenschaft anerkannt. Diese Trennung ist aber selbst politisch, weil sie Wissenschaft auf das Zweckrationale begrenzt und damit ihr fortschrittliches Potenzial beschneidet. Studentische politische Bildung verdient in gewissem Maße den Titel einer »Bastion der Kritik«, weil sie einer der wenigen Orte ist, an denen sich der Luxus einer Auseinandersetzung mit der Welt geleistet werden kann, die nicht unmittelbar zweckgebunden ist.
antifa: Laut Ankündigung sollte es insbesondere darum gehen, dass Deutschland »aus der Geschichte gelernt hat«. Welche Lehren wurden beispielsweise aus der Rolle der Universitäten im NS gezogen?
Sebastian: In der Bundesrepublik gab es – auch an den Hochschulen – nicht wirklich einen Bruch mit der faschistischen Vergangenheit. An vielen Instituten wurde die Arbeit nach 1945 fortgeführt. Die Bemühungen der Alliierten um die vier Ds, also Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentralisierung und Demokratisierung, wurden von der Bevölkerung und den Institutionen sabotiert. So gründeten sich bald schon wieder die studentischen Verbindungen, die maßgebliches Personal für den NS-Faschismus gestellt hatten. Auch die Demokratisierung der Hochschule wurde nicht konsequent durchgesetzt, und eigentlich zerschlagene Konzerne können heutzutage wieder großen gesellschaftlichen Einfluss geltend machen, gerade an technischen Hochschulen.
Dieser Topos des geläuterten Deutschlands ist aber nicht einfach nur historisch unzutreffend, sondern eine neue Form der Geschichtspolitik. Deutsche Großmachtpolitik hat angesichts ihrer Geschichte diplomatisch und innenpolitisch einen schweren Stand. Wenn es aber »Lehren aus der Geschichte« gibt, und die Bundesrepublik sich als ihr Musterschüler darstellen kann, ist damit einem neuen deutschen Sendungsbewusstsein der Weg geebnet. Besonders ekelhaft ist das dort, wo deutsche Publizist*innen Jüdinnen und Juden vorwerfen, nicht die richtigen Lehren aus Auschwitz gezogen zu haben – ganz so, als sei das eine Besserungsanstalt gewesen. Aber auch das außenpolitische Alltagsgeschäft Deutschlands basiert zu einem nicht geringen Teil auf der Inszenierung als »Aufarbeitungsweltmeister«. Derweil steht es um die Demokratisierung der (Hoch-)Schulen und die konsequente Entnazifizierung von Polizei, Geheimdiensten und Bundeswehr bekanntermaßen schlecht, weil diese Geschichtspolitik der Läuterung mit Antifaschismus nichts zu tun haben will.
antifa: Kannst du ein Beispiel für gelungene studentische Bildungsarbeit nennen?
Sebastian: Randi Becker hat auf dem Kongress ihr Seminar zu Gießener Frauen im Nationalsozialismus vorgestellt. Dabei hat jede*r Student*in über ein Semester zu einer Frau recherchiert. In den Sitzungen wurde über Herangehensweise, Probleme und Zwischenergebnisse gesprochen. Die Endergebnisse wurden dann in Form einer Stadtkarte zusammengefasst, auf deren Grundlage auch Führungen angeboten werden können. Für sich genommen sind angeleitete Recherche und Stadtführungen schon hochinteressante Formate, weil die Teilnehmer*innen hier persönlicher angesprochen werden und zudem etwas Nachhaltiges erarbeitet wird. Beides im Rahmen eines Uniseminars zu verbinden war zweifellos nicht einfach. Deshalb dominieren klassische Vorträge sicherlich in der Breite.
Sebastian Zachrau ist politischer Geschäftsführer des freien zusammenschlusses von student*innenschaften, dem Dachverband der Studierendenschaften. Er hat in Bonn Geschichte studiert und engagiert sich seit 2016 in der Hochschulpolitik und der politischen Bildung.