Die Gefahr einer Bewegung
4. September 2022
Veranstaltungsbericht »Wann ist es sinnvoll, von Faschismus zu reden?«
Seit über einhundert Jahren gibt es eine Debatte um den Begriff Faschismus. Auch die VVN-BdA beschäftigt dieses Thema schon lange, zumal in der Organisation unterschiedliche Faschismusbegriffe verwendet werden. Das war bereits die wichtigste Erkenntnis einer Onlineveranstaltung unserer Organisation zum Faschismusbegriff. Denn es gibt keinen generischen, also allgemeinen Faschismusbegriff, sondern vielfältige Vorstellungen dazu. Knapp 100 Gäste haben an der Videokonferenz am 3. August teilgenommen und sich aktiv an der Diskussion beteiligt.
Das Problem des Faschismusbegriffs heute ist eher dessen Entgrenzung als Folge inflationärer Verwendung, erläuterte Mathias Wörsching in seinem Vortrag. Von Faschismus wird heute etwa in der Ukraine gesprochen, bei sogenannten Querdenkern und bei »Hygienedemos«. Das führe nicht zu mehr Schärfe, sondern zu seiner Bagatellisierung und Verharmlosung. Mathias Wörsching hat eine Unmenge von Faschismustheorien im linken Spektrum in seinem Buch »Faschismustheorien« analysiert und die Ergebnisse jahrzehntelanger faschismustheoretischer Debatten zusammengefasst. Es ist ein praktikables Nachschlagewerk zur Faschismusdiskussion bis in die Neuzeit. Zwischen entgrenzter Verwendung des Begriffs und historischer Verengung lediglich als ein Stück italienischer Geschichte stellt sich die Frage, mit welchem Ziel eine solche Definition heute erfolgen soll.
Differenziertes Bild über extreme Rechte
Der Autor benennt die Entwicklung eines differenzierten Bildes der extremen Rechten als Zielstellung einer solchen Diskussion. Denn ein Faschismusbegriff, der nichts mit der Gegenwart zu tun hat, sei wertlos und zugleich verharmlosend. Damit sei der Begriff wiederum untauglich, um Faschismus als existenzielle Menschheitsgefahr und eben auch internationales Phänomen zu erkennen. Deshalb tritt der Autor für eine Präzisierung des Faschismusbegriffs ein, denn der vorhandene sei mittlerweile zum Hindernis in Diskussionen über aktuelle Phänomene geworden.
Wesentlich ist, dass Faschismus historisch dem Kapitalismus entspringt, aber nicht notwendig aus ihm hervorgeht. Der Gebrauch des Begriffs enthält verschiedene Ebenen wie Ideologie, Bewegung und Programm ebenso wie politische Organisation und Herrschaftstyp. Qualitativ lässt er sich durch Merkmale wie Nationalismus, Imperialismus, Sozial-darwinismus, Antisemitismus, Homophobie oder Antifeminismus nicht abschließend eingrenzen, folgt aber darin den Grundaussagen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Für heute wichtig ist insbesondere der Bewegungscharakter des Faschismus, bei dem dessen Anhänger begeistert ein Ziel verfolgen, radikalen Nationalismus predigen, innere und äußere Feinde in Form von Minderheiten und Opposition gezielt angreifen. Faschismus ist nicht selten antisemitisch aufgeladen, betreibt einen Kult um Gewalt und Opfer und drängt als kontinuierliche Massenbewegung zum faschistischen Regime.
AfD als faschistische Bewegung im Werden
An dieser Stelle wurde der Einzelfall AfD ins Spiel gebracht. Der Autor sieht die Partei mit ihrem Wahlprogramm nicht als faschistische Partei an. Dazu fehle ihr die ideologische Klarheit. In der Partei stritten viele ideologische Strömungen, sie erhalte nur Zuspruch aus einem kleinen Teil des Mittelstandes, und es bestehe eine klare Distanz vonseiten des Großkapitals. Lediglich der Höcke-Flügel sei präfaschistisch aufgestellt, die Partei aber weniger an einer faschistischen Diktatur als an einem autoritären Regime interessiert, gewissermaßen eine faschistische Partei im Werden. Trotz Monopol- und Oligopolbildung herrsche in Deutschland derzeit kein Trend zur Errichtung einer autoritären Herrschaft. Die parlamentarische Demokratie war und ist wiederum eine Voraussetzung des Faschismus, weil sie ihm mit ihren Grundprinzipien Raum zur Ausdehnung gewähre. Das gelte für den historischen Faschismus nicht weniger als heute. Wichtiger als ein Begriffsstreit sei hingegen die Entfaltung einer emanzipatorischen Bewegung und eines demokratischen Diskurses, die der Verbreitung faschistischen Gedankengutes entgegenwirken und dessen Formierung als Bewegung behinderten bzw. verhinderten.
In der Diskussion wurde weiter um das Verhältnis von Kapitalismus und Faschismus gestritten, wurde aber die Bewertung des Islamismus und Stalinismus als faschistisch abgelehnt. Bei ersterem handele es sich um einen religiösen Diskurs, beim Stalinismus fehle die massenhafte Bewegung. Faschismus sei heute weniger als Herrschaftsinstrument, sondern eher als Bewegung gefährlich, als eine extrem rechte Bewegung, die den Diskurs mit antidemokratischen Inhalten und Werten verschieben will und zur Macht strebt. Daran müssten sich Demokratie und linker Diskurs abarbeiten. Dass es hierbei nicht nur um abstrakte Überlegungen geht, beweist die faschistische »Fratelli d’Italia«, die in Italien für die Wahl im Herbst in den Umfragen bei 25 Prozent der Stimmen steht neben zwei weiteren Rechtsaußen-Parteien mit guten Wahlaussichten (siehe Seite 23).
Siehe faschismustheorie.de