Nach der Erinnerung

geschrieben von Maxi Schneider

8. November 2022

Konferenz in Frankfurt stellt große Fragen zur Zukunft einer globalisierten Erinnerungskultur

Überthema dieser international angelegten Konferenz im September 2022 war die Frage, wie die Erinnerungen an Nationalsozialismus und Kolonialismus zusammengebracht werden können und welche Probleme dem derzeit entgegenstehen. Meron Mendel (Anne-Frank-Bildungsstätte, Frankfurt) forderte eingangs, dass auch die Erinnerung an den Holocaust selbst inklusiver gestaltet werden müsse. Die gesamte Veranstaltung wurde begleitet von der Frage nach dem Verhältnis Deutschlands zu Israel, der Charakterisierung des Nah-Ost-Konflikts und den Auswirkungen post-kolonialer Bewegungen und Theorien auf Erinnerungskulturen in einem globalen Kontext.

Das zweitägige Programm bildete aktuelle geschichtspolitische Debatten ab, die derzeit zum Teil aufgeheizt und aufgeladen geführt werden. So brodelte es während der beiden Konferenztage spürbar unter der Oberfläche. Dennoch: Das Ringen um Versachlichung und Verständigung stand im Vordergrund. Manchen war die Auseinandersetzung gar zu sanft, wie gegen Ende von einer Teilnehmerin geäußert wurde. Tatsächlich kann man sagen: Hier wurden einige heiße Eisen in Wattebäuschchen verpackt – und dadurch zumindest teilweise besprechbar gemacht.

Haben wir derzeit einen Historikerstreit 2.0.?

Seit nunmehr 2 Jahren hat sich die geschichtswissenschaftliche Debatte über das Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus immer weiter zugespitzt. Gestritten wird wieder einmal über die Frage nach der Singularität des Holocaust.

Trotz vieler Parallelen zum Historikerstreit von 1986/87, so stellte Mendel fest, stünden sich heute nicht eine rechtsnationale und eine liberal-demokratische Weltanschauung gegenüber. Die Konfliktlinien verlaufen vielmehr zwischen zwei Lagern, die sich beide als progressiv verstehen. Während die einen den Eindruck habe, die Herausgehobenheit des Holocaust verstelle den Blick auf koloniales Unrecht, befürchten die anderen wiederum, es könne zu NS-Verharmlosungen führen, wenn den nazistischen Massenverbrechen andere Gewaltverbrechen an die Seite gestellt werden. Beide Seiten trauen sich gegenseitig das Schlimmste zu, unterstellen sich je nach Lager Rassismus oder Antisemitismus und bekämpfen einander entsprechend.

Felix Äxsters (Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin) fühlt sich an die Extremismustheorie erinnert, wenn postkolonialen Aktivist*innen unterstellt wird, die Singularität anzugreifen „wie damals in den 80ern die Rechten“. Er wehrt sich gegen die pauschale Delegitimierung postkolonialer Anliegen und betont, es gehe nicht darum Auschwitz zu relativieren, sondern darum, das Feld des Unbewältigbaren auszudehnen.

Singulär für wen?

Für den Historiker Omer Bartov (Brown University, Providence) ist der Holocaust Teil einer Matrix von Massenverbrechen – kolonialen und nicht-kolonialen – und in diesem Sinne nicht einzigartiger als andere historische Ereignisse. Die Singularität des Holocaust ist für ihn eine Frage der Positionierung: Einzigartig sei der Holocaust nur für Deutsche und für Juden. Und das müsse er auch bleiben, um – im Falle der Deutschen – NS-Relativierungen vorzubeugen und um – bezogen auf Jüdinnen und Juden – dem kollektiven Trauma, das der Holocaust verursacht, hat gerecht zu werden. Ein darüberhinausgehendes Festhalten an der Singularitätsthese jedoch löse den Holocaust aus der Geschichte heraus und lasse ihn zum Mythos werden. Ein Mythos, der als Argument gegen die Forderung nach notwendigen Erweiterungen der Erinnerung benutzt werden könne. Bei aller Kritik an staatlich verengter Erinnerungskultur warnte er aber auch davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten: „Da ich Deutschland schon kannte, bevor es die derzeitige Gedenkkultur gab, bin ich mir ihrer Prekarität bewusst und mache mir Sorgen, was an ihre Stelle treten könnte.“

Steffen Klävers (Autor „Decolonizing Auschwitz?“) plädierte dafür, anstatt von Singularität von Präzedenzlosigkeit zu sprechen und stellte den vorangegangenen Ausführungen entgegen, dass an der Einzigartigkeit des Holocaust auch als analytische Kategorie festgehalten werden müsse. Er argumentierte für die Einzigartigkeit des Holocaust, die nicht nur eine subjektive Frage, sondern durchaus objektivierbar sei.

Diskussion um die documenta

Die Abendveranstaltung war der, zu diesem Zeitpunkt noch laufenden, documenta gewidmet. Der Moderator René Aguigah (deutschlandfunk) stellte den Abend unter das Motto „Der Dialog ist tot. Es lebe der Dialog“. Ein leerer Stuhl symbolisierte das Fehlen einer palästinensischen Stimme, die trotz der Bemühungen der Veranstalter nicht zu bekommen war. Die Künstlerin Hito Steyerl begründete den Rückzug ihrer Werke von der documenta mit der Sprachlosigkeit vonseiten der Verantwortlichen nach der Enthüllung antisemitischer Bilder und beschreibt gleichzeitig die Verfahrenheit der Situation. Bereits früh habe es das Muster gegeben, dass jegliche Antisemitismusvorwürfe gegen die documenta-Macher*innen mit Rassismus-Vorwürfen gekontert worden waren. Gleichzeitig seien die Kurator*innen gegen tatsächliche rassistische Angriffe nicht geschützt worden.

Sie könne zu einem gewissen Grad beide Seiten verstehen,. Nicht verstehen könne sie, dass sich beide Seiten dermaßen auseinander dividieren ließen. „Ich lebe im Land von Halle und Hanau“ so Steyerl, „nicht Halle oder Hanau und erst recht nicht Halle gegen Hanau“. Dem kann hinzugefügt werden, dass die Täter von Halle und Hanau beide aus einem zutiefst antisemitischen UND rassistischen Weltbild heraus handelten. Als der Konflikt nach der Eröffnung eskalierte habe sie sich als in Deutschland lebende Künstlerin positionieren müssen. Sie habe aber gleichzeitig das Gefühl gehabt, sich zwischen Anti-Rassismus und Anti-Antisemitismus entscheiden zu müssen und in diese Entscheidung habe sie sich nicht hineinpolarisieren lassen wollen.

Alle Diskutant*innen waren sich einig, dass Anti-Rassismus und Anti-Antisemitismus nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Nicht zusammen kamen die Anwesenden in der Frage, wie die documenta nun abschließend zu bewerten sei: War sie trotz allem in ihrer postkolonialen, antirassistischen, kollektiven Ausrichtung gegen Krieg und Unterdrückung weltweit ein Meilenstein? Oder entwertet der Tabubruch des Zeigens eines Antisemitismus ohne Umwegkommunikation auf offener Bühne alles andere? Beide Positionen fanden Fürsprecher*innen.

Nationalisierung der Erinnerung und daraus resultierende Probleme

Der zweite Tag der Konferenz drehte sich um Fragen der Erinnerungs- und Geschichtspolitik im internationalen Vergleich. Zofia Wóycicka (Universität Warschau) beleuchtete die Schwierigkeiten, die das repressive Klima in Polen für Geschichtswissenschaftler*innen mit sich bringt. Doron Kiesel (Zentralrat der Juden) betonte die Bedeutung der kollektiven Traumatisierung der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachfahren für das Verständnis israelischer (Geschichts-)Politik und Mirjam Zadoff (NS-Dokumentationszentrum München) stellte in ihren Überlegungen zu den USA die auf, die Blockade der Erinnerung an die Sklaverei könne letztlich auch die Erinnerung an den Holocaust gefährden. Sie schloss mit dem Appell, gegenseitige Bezugnahmen nicht zu scheuen. Vielmehr bräuchte es mehr internationale Solidarität. Passend dazu drehte sich die Podiumsdiskussion im Anschluss um die aktuellen geschichtspolitischen Verwerfungen zwischen Polen und Israel, die vor allem durch die Nationalisierung der Erinnerung in beiden Ländern versursacht werden.

Was seid ihr bereit aufzugeben?

Mit dem Thema „Wiedergutmachungsabkommen und Restitutionen“ war ein weiteres Kernthema der VVN-BdA vertreten. Allerdings auf für uns ungewohnte Art und Weise. Im Gespräch zwischen Naita Hishoono (Namibia Institute für Democracy, Windhuk), Ruprecht Polenz (Sondergesandter für die deutsch-namibische Vergangenheitsbewältigung) und Iris Nachum (Hebräische Universität Jerusalem) wurde die Frage diskutiert, ob das Wiedergutmachungsabkommen von 1952 zwischen Deutschland und Israel als Vorbild für Restitutionen für koloniale Verbrechen dienen könne. Nachum sorgte mit ihrem Vortrag über die historischen Hintergründe der deutschen Entschädigungs-Debatten für notwendige Differenzierungen. Im Mittelpunkt der Diskussion standen die aktuellen Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia in Sachen Entschädigung für den Genozid an den Herero und Nama durch deutsche Kolonialtruppen.

Naita Hishoono (Windhuk), Soziologin und Leiterin des Namibia Institute for Democracy, auf der Konferenz in Frankfurt am Main

Naita Hishoono (Windhuk), Soziologin und Leiterin des Namibia Institute for Democracy, auf der Konferenz in Frankfurt am Main

Wie soll es möglich sein koloniales Leid aufzuarbeiten, in einer Welt, die bis heute von rassistischen Ausbeutungsverhältnissen geprägt und durchzogen ist? Diese Frage beantwortete Hishoono mit einer Gegenfrage: „Was seid ihr bereit aufzugeben?“ Sie machte in ihrem Vortrag rassistische Kontinuitäten deutlich und führte ihren Zuhörer*innen eindringlich die Relevanz bestehender wirtschaftlicher Abhängigkeiten vor Augen, die alle salbungsvollen Worte Lügen strafen.

Angesichts dieser, der Realität völlig angemessenen Unversöhnlichkeit war es erstaunlich mit welcher Einmütigkeit in der anschließenden Debatte bekundet wurde, Deutschland habe mit seinem Verhalten in Entschädigungsfragen eine Vorreiter- und Vorbildrolle eingenommen. Dass deutsche Regierungen grundsätzlich bemüht waren, möglichst große Gruppen von Entschädigungszahlungen auszuschließen und sich bis heute weigert seinen Verpflichtungen gegenüber Griechenland oder Italien nachzukommen, blieb weitgehend unberücksichtigt.

Unordnung aushalten – Erinnerungsräume erweitern

Neben all den großen Streitthemen traten wichtige praktische Fragen zur Öffnung der Erinnerung eher in den Hintergrund. Doch auch postmigrantische Realitäten in Deutschland und Anforderungen an die Erinnerungskultur waren Thema. Esra Özyürek (Cambridge University) problematisierte, wie sehr die Erinnerungskultur in Deutschland von der Perspektive weißer Täter-Nachfahren bestimmt werde. Nur so sei zu erklären, dass die Empathie, die junge Muslime in Deutschland aufgrund eigener Ausgrenzungserfahrungen vielfach mit Holocaust-Opfern empfänden, bei Pädagog*innen auf Unverständnis stießen und mit dem Verdacht der NS-Relativierung belegt werden. Von Deutschen, die einer muslimischen Minderheit angehören, werde erwartet, „dass sie sich in die heutigen weißen Deutschen einfühlen, in deren Namen der Holocaust begangen wurde, und dass sie nun mit dieser Schuld leben müssen, um legitimierweise als Mitglied der deutschen Gesellschaft akzeptiert zu werden.“

Wolfgang Meseth (Goethe Universität Frankfurt) plädierte ebenfalls für mehr Empathie und die Fähigkeit verschiedene Leiderfahrungen nebeneinander stehen lassen zu können. Er forderte grundsätzlich eine stärkere Unterscheidung von Moral und Ethik, um die ständige Vorwurfkommunikation im Streit um das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus zu durchbrechen. Mark Terkessidis (Autor „Wessen Erinnerung zählt?“) sprach sich für die Erweiterung von Erinnerungsräumen aus. Die momentanen Auseinandersetzungen würden fortbestehen, die Unordnung werde bleiben und es dürfe nicht darum gehen, sie in einer neuen ideellen Gesamterinnerung aufzulösen. Eine solche böte nur ein erneutes Einfallstor für autoritäre Lösungen.

Unsere Bundessprecherin Denise Torres konnte am Donnerstagnachmittag und -abend ebenfalls als Teilnehmerin mit dabei sein und die Diskussionen um erinnerungskulturelle Aufgaben in unserer postnazistischen und postmigrantischen Gesellschaft und um die documenta 15 mitverfolgen. Sie zog im Gespräch im Nachhinein dazu folgendes Resümee: „Der Erinnerungsraum sollte größer gedacht werden, auch über Europa hinaus.“ Daraus resultiere die Erweiterung der Erinnerungskultur auf Menschen mit Migrationsgeschichte und auf die Kolonialgeschichte. „Für uns als VVN-BdA“ so Denise „ist es gut und wichtig darüber auch in den eigenen Reihen zu sprechen. So können wir unsere eigene Praxis erweitern und zu einer integrativen Erinnerungskultur kommen. Dass wir dazu in der Lage sind, zeigen bereits unterschiedliche Gedenkveranstaltungen, beispielsweise gemeinsam mit Sinti und Roma oder mit der DIDF-Jugend und anderen, wenn wir am 19.02. wieder an die Opfer von Hanau erinnern werden.“

Marginalie:

Viele Impulse, ordentlich Diskussionsstoff und bleibende Fragezeichen zu geschichts- und erinnerungspolitisch aktuellen Themen gab es am 22. Und 23. September 2022 in Frankfurt am Main bei der Konferenz „Beyond – Towards a Future Practice of Remembrance“. Pandemiebedingt um ein Jahr verschoben konnte die Tagung, inhaltlich gestaltet von der Anne Frank Bildungsstätte und dem Goethe-Institut und finanziert durch das Auswärtige Amt, nun im großen Hörsaal der Frankfurt University of Applied Science stattfinden.

Die Beiträge der Konferenz können auf dem Youtube-Kanal der Bildungsstätte Anne Frank angeschaut und nachgehört werden:

https://www.youtube.com/c/Bildungsst%C3%A4tteAnneFrank

Zu besseren Orientierung hier nochmal das Programm:

https://www.bs-anne-frank.de/fileadmin/content/Events/Flyer_Beyond_Konferenz_Sept_2022_neu.pdf