Hungerkatastrophe als Genozid?

7. Januar 2023

Über Probleme der historischen Einordnung des »Holodomor« und politische Instrumentalisierungen

Dieser Beitrag ist in der Print-Ausgabe der antifa in einer gekürzten Fassung erschienen

Europaparlament und Bundestag verabschiedeten in jüngster Zeit vor dem Hintergrund des anhaltenden Krieges Russlands gegen die Ukraine Erklärungen zum »Holodomor«. Doch die historisch-politische Einordnung der Hungerkatastrophen in der Sowjetunion der frühen 1930er Jahre ist kompliziert und kann nicht einfach politisch verordnet werden. Die eindeutige Klassifizierung als Genozid ist Ausdruck außenpolitischer Interessen, offenbart ein instrumentelles Verhältnis zur Geschichte und birgt die Gefahr NS-relativierender Effekte.

Das Europarlament hat durch einen Beschluss am 15. Dezember 2022 die wesentlich politisch verursachte Hungerkatastrophe in der Sowjetunion 1932/33 als Genozid am ukrainischen Volk klassifiziert. Zwei Wochen zuvor hatte der Deutsche Bundestag einen Beschluss zum selben Thema gefasst. Der von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gemeinsam eingebrachte Antrag mit dem Titel »Holodomor in der Ukraine: Erinnern – Gedenken – Mahnen«[1] wurde am 30. November 2022 unter Enthaltung der Abgeordneten von AfD und DIE LINKE verabschiedet. Viele sehen darin eine löbliche Anerkennung derjenigen, die im Rahmen staatlicher Hungerpolitik unter Stalin ermordet wurden. Andere befürchten NS-Relativierungen, wenn dem Holocaust der »Holodomor« an die Seite gestellt wird, und sehen in der Entscheidung des Bundestages eine politisch motivierte Anmaßung.

Tatsächlich positioniert sich die deutsche Politik mit dieser Erklärung innerhalb einer wissenschaftlichen Kontroverse, die in der Fachwelt nicht entschieden ist und folgt damit einer Nationalisierung ukrainischer Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik.

Antrag des Bundestages vager

Doch anders als das Europaparlament, das keinen Zweifel an der Einordnung des »Holodomors« als Völkermord lässt,[2] ist die Formulierung im verabschiedeten Antrag des Bundestages vager gehalten. In der Aussprache während der Sitzung am 30. November bezeichneten die Vertreter*innen sämtlicher antragstellender Parteien die Hungersnot in der Ukraine als Völkermord,[3] doch in der schriftlichen Vorlage heißt es:

»Es zeigt sich, dass im Falle des politischen Verbrechens des Holodomors das Streben der sowjetischen Führung nach Kontrolle und Unterdrückung der Bäuerinnen und Bauern, der Peripherien des sowjetischen Herrschaftsprojekts sowie der ukrainischen Lebensweise, Sprache und Kultur verschmolzen. Betroffen von Hunger und Repressionen war die gesamte Ukraine, nicht nur deren getreideproduzierende Regionen. Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung.«[4]

Was als Erbsenzählerei erscheint, ist an dieser Stelle wichtig. Anders als es die Aussprache im Bundestag und die Presseberichterstattung zur Erklärung erscheinen lassen, tut sich der Bundestag offensichtlich doch noch schwerer als das Europaparlament, eine ganz klare Benennung des »Holodomors« als Genozid festzulegen. Anders als bei der Armenien-Resolution, zu der sich die Abgeordneten 2016 gegen große Widerstände der türkischen Regierung endlich durchringen konnten und in der der Massenmord an den Armeniern 1915/16 bereits im Titel klar als Völkermord bezeichnet wird, erklärt der Bundestag nun eine Einordnung zu teilen, obwohl sie keineswegs feststeht, sondern selbst nach Ansicht der Wortakrobaten, die diese Erklärung hervorgebracht haben, lediglich »naheliegt«.

Worin liegen die Schwierigkeiten der Bewertung der Hungersnot von 1932/33? Warum verabschieden Bundestag und Europaparlament zum jetzigen Zeitpunkt dennoch diese Erklärungen? Und worin besteht das Problem, wenn das Massensterben in der Ukraine 1932/33 als Genozid qualifiziert wird?

Historische Hintergründe

Historische Massenverbrechen müssen benannt werden, egal von wem sie verübt wurden. Mindestens fünf bis sieben Millionen Sowjetbürger*innen verhungerten Anfang der 1930 Jahre – über drei Millionen in der ukrainischen Sowjetrepublik. Weitere Schwerpunkte lagen in Kasachstan und an der Wolga. Allein Kasachstan hatte 1,5 bis zwei Millionen Tote zu beklagen und verlor damit gemessen an seiner Bevölkerungszahl prozentual noch mehr Menschen als die Ukraine. An der mittleren und unteren Wolga verhungerten Hunderttausende Russ*innen und Deutsche.

Die Hungerkatastrophe war das Ergebnis einer forcierten Industrialisierung auf dem Rücken der bäuerlichen Bevölkerung. Die Ernährung der Bevölkerung in den Städten hatte oberste Priorität, was vor allem auf dem Land ein unvorstellbares Massensterben (ukrainisch: Mor) durch Hunger (ukrainisch: Holod) nach sich zog. Hauptursache war die Beschlagnahmung von dringend benötigten Nahrungsmitteln.

Die Sowjetunion entstand ursprünglich aus der Überzeugung heraus, dass eine gerechtere, klassenlose Gesellschaft möglich ist. Durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft sollte die Industrialisierung der landwirtschaftlich geprägten Sowjetunion, vor allem mit Blick auf Bergbau und Schwerindustrie, sowie die Elektrifizierung vorangebracht werden – und zwar um jeden Preis. Die bolschewistische Partei und ihre Aktivist*innen sahen darin die Voraussetzung, um die Revolution verteidigen und weitertreiben zu können und damit letztlich die Grundlage dafür, die Existenz der Sowjetunion sicherzustellen. Diesem Ziel wurde alles untergeordnet und man war offenbar bereit, dafür Millionen Menschenleben zu opfern.

Landbevölkerung traditionell angefeindet

Abtransport der Ernte durch einen sogenannten Roten Zug, 1932. Hier im Dorf Oleksijiwka, Oblast Charkiw

Abtransport der Ernte durch einen sogenannten Roten Zug, 1932. Hier im Dorf Oleksijiwka, Oblast Charkiw

Die bolschewistische Führung stand der Landbevölkerung traditionell misstrauisch bis feindselig gegenüber. Bereits in den Jahren des Kriegskommunismus waren Nahrungsmittelrequisitionen an der Tagesordnung, und die Bauernschaft galt als Hort der Konterrevolution. In den 1920er Jahren schloss Lenin mit den Bäuer*innen einen prekären Frieden. Im Zuge der 1921 eingeführten Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) wurden freier Handel und Privateigentum in begrenztem Maße zugelassen. Den Sowjetrepubliken gestand Moskau eine gewisse nationale Eigenständigkeit zu. Die Ergebnisse dieser Prozesse bekämpfte Stalin mit dem ersten Fünfjahrplan ab 1928 auf brutale und skrupellose Weise.

Das Verhältnis zwischen Moskau und der Ukraine war kompliziert. Neben tatsächlich konterrevolutionär gesinnten ukrainischen Nationalist*innen sahen sich die Bolschewiki einer Bauernschaft gegenüber, die nicht grundsätzlich antisowjetisch eingestellt war, deren politische Bestrebungen jedoch auf eine Art staatsferne, basisdemokratische Selbstverwaltung mit subsistenzwirtschaftlicher Grundlage hinausliefen. Anders als in vielen Teilen Russlands waren Formen dörflichen Gemeineigentums in der Ukraine weniger üblich. Die Zwangskollektivierungen bedeuteten daher in der Kornkammer der Sowjetunion einen besonders großen Einschnitt.

Planerfüllung oberstes Ziel

Die Ernte 1931 war schlecht. Die Gründe dafür waren zunächst vielfältig: schlechtes Wetter, Schädlinge, Produktionsengpässe. Die anschließende Hungersnot jedoch war eine direkte Folge der Reaktion der sowjetischen Führung. Anstatt den Hilfegesuchen der ukrainischen Kommunistischen Partei (KP) nachzukommen und die unrealistisch gewordenen Requirierungspläne zurückzunehmen, bestand Stalin auf der Planerfüllung. Die Bäuer*innen mussten nun auch Teile ihres Saatgutes abgeben. Wer sich weigerte, wurde im Rahmen der sogenannten Entkulakisierung mit dem stalinistischen Repressionsapparat konfrontiert und sah sich von Deportation oder Tod bedroht.

Darin bestand ein wesentlicher Unterschied zu der sowjetischen Hungersnot 1921/22. Damals starben in Folge des Ersten Weltkrieges und aufgrund des Bürgerkriegs ebenfalls Millionen Menschen. Auch damals verschlimmerten unerfüllbare Ablieferungsvorgaben die Situation der Landbevölkerung, doch grundsätzlich waren die sowjetischen Behörden in diesen Jahren darum bemüht, die Not abzuwenden und zu lindern. Das war 1932/33 anders. Unter Stalin wurde die Möglichkeit, die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen oder ihr diese zu entziehen, zu einem Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.

Durch die Beschlagnahmung des Saatguts und realitätsferne Abgabevorschriften war ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der Millionen Menschen das Leben kostete. Die Ukraine hatte innerhalb dieser Hungerpolitik eine herausgehobene Position. Anstatt den Fünfjahrplan in Frage zu stellen, erklärte Stalin die Hungernden in der Ukraine zu Feind*innen des Sozialismus. In einer zynischen Verkehrung der Tatsachen, machte er das wissentlich in Kauf genommene und politisch erzeugte Massensterben den Ukrainer*innen selbst zum Vorwurf und unterstellte den Verhungernden, Lebensmittel zurückzuhalten. Darauf aufbauend wurden ab Herbst 1932 Maßnahmen erlassen, die die Situation dramatisch verschärften.  Getreide wurde bis hin zum Saatgut erbarmungslos eingesammelt und die letzten verbliebenen Nutztiere im Rahmen einer Fleischabgabe beschlagnahmt. Kolchosen, die ihr Soll nicht erfüllten, wurden mit weiteren Abgaben bestraft. Hinzu kam die Einführung einer Fleischabgabe, durch die mancher Familie die einzige Kuh und damit die letzte verbliebene Nahrungsquelle weggenommen wurde. Die Menschen blieben mit nichts zurück. Anstatt Hilfegesuche an die Weltöffentlichkeit zu richten, wie noch während der Hungersnöte Anfang der 1920er Jahre ließ Stalin vorhandenes Getreide exportieren, um moderne Technologien zu finanzieren und die Industrialisierung weiter voranzubringen. Dem krisengebeutelten kapitalistischen Ausland sollte die Überlegenheit des stalinistischen Modells vor Augen geführt werden, während die eigene Bevölkerung verhungerte. Anfang des Jahres 1933 wurden die Grenzen zur Ukraine geschlossen. Die Menschen saßen fest und konnten sich nicht einmal in die abgeriegelten Städte flüchten, in denen die Versorgungslage etwas besser war. Die Folge war ein Massensterben unvorstellbaren Ausmaßes. Keine Familie blieb verschont, Kannibalismus und Menschenfleischhandel waren eine verbreitete Realität.

Der »Holodomor« als Genozid?

Dass die Hungerkatastrophe in der Sowjetunion und insbesondere auf dem Gebiet der heutigen Ukraine ein staatlich organisiertes Verbrechen war, steht fest. Dass den Ukrainer*innen und Millionen weiterer Bäuer*innen auf sowjetischem Territorium durch die sowjetische Führung unvorstellbares Leid angetan wurde, muss anerkannt werden.

Ob dieser Fakt jedoch ausreicht, um die politisch erzeugte Hungersnot 1932/33 als Genozid im Sinne der UN-Völkermordkonvention von 1948 einzuordnen, ist umstritten und bleibt fraglich. Für die Qualifizierung als Genozid muss die Frage nach der Absicht der mörderischen Politik von Stalin und Konsorten gestellt werden dürfen. Anders als im Falle der Genozide, die die deutschen Kolonialtruppen im heutigen Namibia an den Herero und Nama, die jungtürkische Regierung des Osmanischen Reiches unter Mithilfe ihres deutschen Bündnispartners an den Armenier*innen, das Deutsche Reich an Jüdinnen und Juden sowie Sinti*zze und Rom*nja oder die Volksgruppe der Hutu in Ruanda an den Tutsi verübten, ist im Falle des »Holodomors« nicht geklärt, ob dieser staatliche Massenmord gezielt und aus »nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gründen«[5] erfolgte.

Offizielle ukrainische Lesart

Es mag kleinlich oder sogar zynisch erscheinen, angesichts von millionenfachem Tod auf diesem Aspekt zu bestehen. Doch die Berücksichtigung der ideologischen Grundlagen eines Massenverbrechens in der Genozid-Definition von 1948 ist kein zu vernachlässigendes Detail, sondern zwingend. Anders als in der 2016 verabschiedeten Resolution zum Genozid an den Armenier*innen, der unumstritten von rassistischen und religiösen Reinheitsfantasien motiviert war und der Logik einer ethnischen Säuberung folgte, wird im Falle des »Holodomor« gar nicht versucht, eine Vernichtung aus »ethnischen, rassischen oder religiösen« Gründen zu behaupten. Hervorgehoben werden die »nationalen« Gründe. Die CDU/CSU zitiert in der Bundestagsdebatte direkt die offizielle ukrainische Lesart, wonach die Ukrainer sterben sollten, »weil sie Ukrainer sind«.[6] Den Verfasser*innen des Antragstextes scheint hingegen bewusst gewesen zu sein, dass es so eindeutig nicht ist. Sie bemühten sich immerhin, den historischen Sachverhalt nicht völlig zu verkürzen und sahen sich zu einer längeren Herleitung genötigt, in der die Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins, die in der Verkettung der historischen Umstände 1933/32 ein Faktor unter mehreren gewesen ist, eine herausgehobene Stellung zugewiesen bekommt. Sie behaupten, dass die massenhafte Tötung durch Hunger gezielt erfolgt sei, um das ukrainische Nationalbewusstsein zu unterdrücken.

Diese Deutung ist jedoch unter Historiker*innen nach wie vor umstritten und damit keine wissenschaftlich verbriefte Aussage, sondern eine politische Entscheidung. Gemeinhin sind sich Historiker*innen darin einig, dass eine Hungerpolitik eingesetzt wurde, mit der der Tod großer Bevölkerungsteile mindestens in Kauf genommen wurde, um vermeintlichen oder tatsächlichen Widerstand gegen die Kollektivierung zu brechen. Doch ob es sich beim »Holodomor« um eine gezielte Aktion gegen die ukrainische Bevölkerung gehandelt hat, ist in Fachkreisen nicht geklärt. Es gibt dazu verschiedene Einschätzungen, die mal mehr und mal weniger politisch motiviert sind.

Geschichte im Dienste außenpolitischer Ziele

Von der relativen Zurückhaltung des Antragstextes ist in der Parlamentsdebatte nichts mehr zu spüren. Jegliche Differenzierungen werden in den Redebeiträgen über Bord geworfen, und dementsprechend war die Presseberichterstattung. Übereinstimmend erklärten die Vertreter*innen von FDP, CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen: »Aus historisch-politischer Perspektive handelt es sich beim Holodomor um Völkermord.«[7]

Der Bundestag wiederholt damit in einer Variation jenen Eiertanz, den bereits das Europäische Parlament bei seiner Erklärung zum selben Thema 2008 vollführte. Damals sprach die Hälfte der Parlamentarier*innen in ihren Reden ganz klar von Völkermord, obwohl sich das Parlament in der eigentlichen Entschließung lediglich zur Verurteilung eines »schrecklichen Verbrechens am ukrainischen Volk und gegen die Menschlichkeit« veranlasst sah.[8] Damals war die Einordnung als Genozid auch auf europäischer Ebene nicht konsensfähig.

Die ukrainische Politik hat in der Vergangenheit bereits lange vor dem 24. Februar 2022 immer wieder versucht, nationale Parlamente dazu zu bringen, solche Resolutionen zu verabschieden, um die ukrainische Position mit Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft im Konflikt gegen Russland durchzusetzen. Seit 2007 gab es auch in Deutschland Petitionen, die die Anerkennung des »Holodomor« als Genozid forderten, sich damit aber nicht durchsetzen konnten. Eine Petition, die 2018 von einer undurchsichtigen, vorgeblich privaten »Initiative ukrainischer Aktivisten«[9] eingebracht wurde, blieb ohne Erfolg. Die Petition wurde forciert vom »Dachverband der ukrainischen Organisationen in Deutschland e. V.«, der nationalistische bis hin zu extrem rechten Akteuren vereint. Zuletzt ließ der Petitionsausschuss des Bundestags 2019 verlauten, die Bundesregierung mache sich die völkerrechtliche Beurteilung des Holodomor als Völkermord »nicht zu eigen«[10]. 2020 kündigte die ukrainische Seite die Schirmherrschaft über die deutsch-ukrainische Historikerkommission auf – unter anderem aufgrund unterschiedlicher Einschätzungen zum »Holodomor«. Das alles scheint sich mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine geändert zu haben, obwohl die historischen Fakten natürlich dieselben geblieben sind. Die Resolution wird damit zu einem durchsichtigen außenpolitischen Manöver.

Warnten die Abgeordneten 2016 bei der Debatte um die Armenien-Resolution noch davor, diese zur »Keule in der tagespolitischen Auseinandersetzung zu machen«[11] zu machen, schrecken sie davor heute nicht mehr zurück. Anders als damals, als die Resolution gegen große Widerstände des NATO-Bündnispartners Türkei durchgesetzt werden musste, geht es heute darum, sich an die Seite der Ukraine zu stellen. Die Antragsteller*innen des Bundestags benennen den russischen Angriff auf die Ukraine als Anlass ihrer Initiative und verknüpfen ihre Interpretation der Geschichte mit der Forderung an die Bundesregierung »die Ukraine als Opfer des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands und der imperialistischen Politik Wladimir Putins im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel weiterhin politisch, finanziell, humanitär und militärisch zu unterstützen«.[12] Auch in der Bundestagsaussprache betonen Politiker*innen der antragstellenden Parteien, diese Entschließung solle die Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen Russland unterstützen und »schweißt uns [Deutschland] noch einmal mehr mit der Ukraine zusammen«[13].

Der Beschluss des Europaparlaments verzichtet vollständig auf eine historische Einordnung. Der Versuch lästiger Differenzierungen wird gar nicht erst unternommen. Bezugnahmen auf den aktuellen Krieg sind noch dominanter. Außerdem verknüpft die europäische Erklärung den »Holodomor« mit dem heutigen Welthunger im globalen Süden und macht die Russische Föderation dafür verantwortlich. Das ist zynisch. Auch wenn die fehlenden Getreidelieferungen aus der Ukraine ein Problem sind, das Russland verschuldet hat: Der Welthunger ist eine seit langem andauernde Tragödie, die sämtliche westliche Staaten mit erzeugt haben und gegenüber der sie sich sonst erschreckend empathielos zeigen.

Dass die Erklärung im Europaparlament um einiges schärfer ausgefallen ist als im deutschen Bundestag, mag auch daran liegen, dass mittlerweile zahlreiche rechts bis extrem rechts regierte Länder vertreten sind, die selbst in ihren Ländern eine revisionistische und zutiefst antikommunistische Geschichtspolitik betreiben. Selbst Dietmar Nietan (SPD) betont in der Bundestagsaussprache, dass »die Versuche, einen multiperspektivischen Blick auf die Geschichte durch Renationalisierung einzudampfen«, nicht nur im Kreml zu finden seien, »sondern auch bei rechtspopulistischen Regierungen in der Europäischen Union«.[14] Er ist aber absurderweise nicht in der Lage, die geschichtspolitischen Entwicklungen in Sachen »Holodomor« in diesen Prozess der Renationalisierung einzuordnen.

Die abgegebenen Erklärungen müssen im Kontext einer Nationalisierung der ukrainischen Erinnerungskultur betrachtet werden, die auch im Land selbst kritisiert wird – bzw. wurde, bevor die Russische Föderation dem Land diesen Krieg aufzwang, der die gesellschaftliche Debatte über die Feinheiten der Erinnerungskultur zum Erliegen brachte. Eine Engführung der Ursachen für das massenhafte Verhungern der Menschen in der Ukraine auf Nationalitätenkonflikte wird der Komplexität historischer Zusammenhänge genauso wenig gerecht, wie die Bagatellisierung als angeblich natürliche Hungersnot. Tatsächlich »verschmolzen« hier verschiedene Faktoren, wie es in der Erklärung des Bundestages heißt. Ihre Gewichtung ist in der Forschung umstritten und kann nicht einfach politisch verordnet werden.

Antisowjetisches Geschichtsbild

Der Dachverband der ukrainischen Organisationen in Deutschland e.V. vereint nationalistische bis hin zu extrem rechten Akteuren. Er versucht beispielsweise mittels Petitionen um Einfluss zu buhlen.

Der Dachverband der ukrainischen Organisationen in Deutschland e.V. vereint nationalistische bis hin zu extrem rechten Akteuren. Er versucht beispielsweise mittels Petitionen um Einfluss zu buhlen.

Die Beschäftigung mit dem »Holodomor« als rein ukrainische Tragödie wurde in den vergangenen Jahrzehnten zum Kernelement eines antisowjetischen Geschichtsbildes, das die heterogene ukrainische Bevölkerung nach 1990 einen sollte. Nationale Identität besteht nicht einfach, sie wird geschaffen und Geschichtspolitik ist dabei immer ein wichtiges Mittel. Im Falle der Bundestagserklärung hat diese Nationalisierung von Geschichte zur Folge, dass das Gedenken auf die ermordeten Ukrainer*innen begrenzt werden muss, um nicht die ganze Konstruktion zum Einsturz zu bringen. Bereits der Begriff »Holodomor« gibt diese Beschränkung vor. So bleiben die Millionen Kasach*innen und weitere Hunderttausende Sowjetbürger*innen, die der stalinistischen Hungerpolitik ebenfalls zum Opfer fielen, weitgehend ausgeschlossen. Das ist eine vertane Chance. So bleiben die 1,5 bis 2 Millionen Kasach*innen und weitere Hunderttausende russische und deutsche Sowjetbürger*innen, die der stalinistischen Hungerpolitik ebenfalls zum Opfer fielen, weitgehend ausgeschlossen.

Die außenpolitische Veranlassung der Erklärung macht das Gedenken an die Opfer unglaubwürdig und hinterlässt einen faden Beigeschmack. Die Resolution ist kein fortschrittlicher erinnerungspolitischer Vorstoß, sondern ordnet sich vielmehr ein in eine angeblich wertebasierte Außenpolitik, die nach allem, was wir bislang gesehen haben, nichts weiter ist als ein interessengeleiteter Moralismus. Auch Annalena Baerbock, bewegt sich in den üblichen Zwängen kapitalistischer Außenpolitik und legt je nach eigener Interessenlage unterschiedliche Maßstäbe an, wenn es darum geht heutige Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen.

Letztlich soll die Qualifizierung des »Holodomors« als Genozid auch den Weg bereiten, um den jetzigen Krieg als (wiederholten) Völkermord der Russen an den Ukrainern einzuordnen. Wir haben es hier bislang mit einem Krieg zu tun, der auf grausame Weise gegen die ukrainische Zivilbevölkerung geführt wird und bei dem zum Verbrechen des Krieges an sich zahlreiche Gräueltaten hinzukommen. Das allein ist schon schlimm genug. Hoffen wir, dass es nicht zu einem Genozid kommt. Das macht das verursachte Leid nicht weniger schrecklich.

NS-Relativierungen entgegentreten

Differenzierungen im Hinblick auf historische Zusammenhänge und Ursachen bleiben notwendig, auch um NS-Relativierungen den Nährboden zu entziehen.

Staatliche Gewaltverbrechen, denen massenhaft Menschen zum Opfer fallen, gab und gibt es viele in der Geschichte. Sie alle als Genozid zu bezeichnen, nimmt dem Begriff seinen Gehalt. Die Hungersnot  in der Sowjetunion 1932/33 hat in der Geschichte der Menschheit trotzdem einen herausgehobenen Stellenwert. Als eine politisch verursachte Hungersnot, die sich gegen die eigene Bevölkerung richtete, hat sie jedoch hinsichtlich der Ursachen und Zusammenhänge mit der Hungersnot in China während des großen Sprungs nach vorn« 1959–1961 weitaus mehr gemein als mit Shoah, Porajmos und anderen eindeutig als Genozid klassifizierbaren Menschheitsverbrechen.

Das Bemühen um die Klassifizierung als Genozid rührt nicht zuletzt daher, dass alle Massenverbrechen sich am Holocaust messen lassen müssen, und umso mehr »Anerkennung« erfahren, je näher sie an die Verbrechen des Nazismus gerückt werden können. Das sollte nicht nötig sein. Auch so ist anzuerkennen, dass sich die Hungernot von 1932/33 tief in die ukrainische Gesellschaft eingeschrieben hat. Ungeachtet des geschichtspolitischen Streits ist es wichtig, »die generationsübergreifende zerstörerische Wirkung des Hungerterrors auf die ukrainische Gesellschaft zu begreifen«[15] – wie es der Historiker Martin Schulze Wessel formuliert – und das damit zusammenhängende kollektive Trauma wahrzunehmen.

Die semantische Anlehnung des Begriffs Holodomor an den Holocaust ist jedoch hervorragend dafür geeignet, ideologische Unterschiede zwischen Faschismus und Stalinismus einzuebnen und geschichtliche Zusammenhänge unsichtbar zu machen. Der Text der antragstellenden Parteien im Bundestag stellt »Holodomor« und Holocaust als »menschverachtende Verbrechen totalitärer Systeme« nebeneinander. Die CDU/CSU geht in der zugehörigen Aussprache gar so weit, implizit gleichzusetzen, »was durch den Holodomor und die Nazis an Massenmord in der Ukraine begangen wurde«[16]. Die planvolle nahezu vollständige Vernichtung rassistisch definierter Menschengruppen war jedoch, wie auch die planvolle »Vernichtung durch Hunger«, eine nazistische Besonderheit, die es in dieser Form anderswo nicht gegeben hat. Über dieses Menschheitsverbrechen aufzuklären, muss unser oberstes Ziel bleiben. »Die Beschäftigung mit der sowjetischen Gewaltgeschichte ist überfällig«, so Martin Schulze Wessel, »Sie sollte allerdings nicht von Genoziden und Massenmorden ablenken, die von Deutschland begangen wurden, sei es in den Kolonien oder in Osteuropa.«[17]

Die Nichtbenennung ideologischer Ursachen und historischer Kontexte trägt dazu bei, die Gefahren, die vom Faschismus als Weltanschauung und politisches Programm ausgehen, zu verschleiern und öffnet totalitarismustheoretischen Geschichtsdeutungen, die antikommunistisch motiviert und in zahlreichen postsowjetischen Ländern hegemonial sind, Tür und Tor. Die sowjetische Erfahrung und die Erinnerung an stalinistische Verbrechen, die in den früheren Ostblockstaaten nach wie vor präsent sind und diese Gesellschaften geprägt haben, brauchen einen Platz in der europäischen Erinnerungskultur. Das heißt aber nicht, dass geschichtsrevisionistischen oder gar NS-relativierenden Positionen, wie sie beispielsweise von lettischer, polnischer oder ungarischer Seite vertreten werden, zugestimmt werden müsste.

Vor geschichtsrevisionistischen Gleichsetzungen sei auch deshalb gewarnt, weil damit möglicherweise weitreichende Auswirkungen in Verbindung mit der im Oktober erfolgten Verschärfung von Paragraph 130 Strafgesetzbuch entstehen, wonach jetzt »das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unter Strafe« stehen. Gestützt auf die am 30. November 2022 angenommene Bundestagsresolution könnte der § 130 StGB auch auf eine historisch anders gelagerte Darstellung über die Hungersnot der Jahre 1932/33 in der Ukraine angewandt werden. Das träfe direkt auch den geschichtswissenschaftlichen Diskurs außerhalb der Ukraine, welcher die Hungersnot für eine furchtbare Katastrophe hält – mit divergierenden Einschätzungen der Verantwortung Moskaus –, aber eben nicht für eine unstrittige Benennung als Genozid und schon gar nicht für ein dem Holocaust gleichzusetzendes Verbrechen.

Ein undifferenziertes Nebeneinander verschiedener Gewaltverbrechen ist im hiesigen Kontext immer noch geeignet, die Schuld, die Deutschland durch die faschistischen Menschheitsverbrechen auf sich geladen hat, etwas leichter erscheinen zu lassen. Die AfD, auf die ich hier ansonsten gar nicht weiter eingehen mag, weil ihre Positionen ohnehin jenseits eines führbaren Diskurses liegen, macht aus Stalinismus und Nationalsozialismus gleich zwei Varianten des Sozialismus. Selbstverständlich gibt sie vor, beides abzulehnen, aber im Falle des deutschen Faschismus eben nicht aufgrund seiner gewalttätigen Herrschaft und antisemitischen und rassistischen Vernichtungspolitik, sondern aufgrund eines angeblich beiden Systemen innewohnenden »Gleichmachungsterrors«[18].

Wider das deutsche Sendungsbewusstsein

Anders als beim Völkermord an den Armenier*innen oder dem Genozid an den Herero und Nama ergibt sich die historische Verantwortung im Falle des »Holodomors« nicht aus der deutschen (Mit)Täterschaft. Der Bundestag nimmt an dieser Stelle trotzdem eine historische Verantwortung in Anspruch, um aus der deutschen Vergangenheit einen besonderen Auftrag abzuleiten, das Wissen um andere staatliche Verbrechen – wie das Massensterben 1932/33 in der Ukraine – zu fördern und zu verbreiten.

Das ist dreist, wenn man sich vor Augen führt, dass eine von der Linkspartei eingebrachte Resolution zu Anerkennung des Völkermords an den Herero und Nama 2016 scheiterte und auch später nie verabschiedet wurde. In einer 2021 ergangenen Erklärung bezeichnet die Bundesregierung dieses Kolonialverbrechen des deutschen Kaiserreichs zwar als Völkermord, besteht aber weiterhin darauf, dass ein Rechtsanspruch daraus nicht abgeleitet werden könne, um nicht unter die 1948 erlassene UN-Konvention und die daraus folgende Bestrafung zu fallen.

Die Formulierung eines solchen Sendungsbewusstseins ist noch aus einem anderen Grund perfide. In Deutschland ist es Antifaschist*innen gelungen – gegen große Widerstände von oben und durch hartnäckiges Engagement über Jahrzehnte – würdiges Erinnern und Gedenken an die Opfer des Faschismus als gesellschaftlichen Anspruch durchzusetzen. Es ist Teil dieses Erfolges, dass sich auch die offizielle Politik den Forderungen nach Gedenken und Erinnerung nicht mehr verschließen konnte. Teil dieser Geschichte ist aber auch, dass wir in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend eine Aneignung dieses Gedenkens durch den Staat beobachten, das von Vereinnahmung und Instrumentalisierung in weiten Strecken nicht mehr unterscheidbar ist. In diesem Fall geht der Bundestag noch einen Schritt weiter und spielt sich als erinnerungspolitische Weltpolizei auf. Eine Rolle, die einem postnazistischen Staat mit wiedererwachten außenpolitischen Ambitionen, im rüstungspolitischen Höhenflug, mit rechtsterroristischen Netzwerken in seinen Sicherheitsbehörden und einem riesigen Rassismusproblem nicht zusteht.

Die VVN-BdA hat in den letzten Jahrzehnten viel dazu beigetragen, dass die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland unvergessen sind, und wir stehen auch heute für ein aktives und gegenwartsbezogenes Gedenken ein. Für uns ist es unerträglich, dass der Bundestag basierend auf unseren erinnerungspolitischen Erfolgen wieder einmal dreist sein Sendungsbewusstsein in Europa und der Welt formuliert.

[1] https://dserver.bundestag.de/btd/20/046/2004681.pdf

[2] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/RC-9-2022-0559_EN.html

[3] https://dserver.bundestag.de/btp/20/20072.pdf#P.8418

[4] https://dserver.bundestag.de/btd/20/046/2004681.pdf

[5] https://www.voelkermordkonvention.de/uebereinkommen-ueber-die-verhuetung-und-bestrafung-des-voelkermordes-9217/

[6] https://dserver.bundestag.de/btp/20/20072.pdf#P.8418

[7] https://dserver.bundestag.de/btp/20/20072.pdf#P.8418

[8] Felix Bok: Abgeordnete als Historiker? – Parlamentarische Anerkennung von Völkermorden, in: Erinnerungskulturen. Erinnerung und Geschichtspolitik im östlichen und südöstlichen Europa, 18. Februar 2022. Online verfügbar unter: https://erinnerung.hypotheses.org/8916.

[9] https://germany.mfa.gov.ua/de/partnership/golodomor-v-ukrayini-1932-1933-rokiv/rozglyad-peticiyi-pro-viznannya-golodomoru-genocidom

[10] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw43-pa-petitionen-662210

[11] https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2016/kw22-de-armenier-423826

[12] https://dserver.bundestag.de/btd/20/046/2004681.pdf

[13] https://dserver.bundestag.de/btp/20/20072.pdf#P.8418

[14] https://dserver.bundestag.de/btp/20/20072.pdf#P.8418

[15] Martin Schulze Wessel: Vergessene Verbrechen. Welche Fragen die Resolution des Bundestags zum Holodomor aufwirft, in: DIE ZEIT, 7. Dezember 2022. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/2022/51/holodomor-josef-stalin-hungersnot-genozid

[16] https://dserver.bundestag.de/btp/20/20072.pdf#P.8418

[17] Martin Schulze Wessel: Vergessene Verbrechen. Welche Fragen die Resolution des Bundestags zum Holodomor aufwirft, in: DIE ZEIT, 7. Dezember 2022. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/2022/51/holodomor-josef-stalin-hungersnot-genozid

[18] https://dserver.bundestag.de/btp/20/20072.pdf#P.8418

Maxi Schneider ist Referentin für Geschichts- und Erinnerungspolitik der Bundesvereinigung der VVN-BdA