Feindbild und Projektion
29. April 2023
Anmerkungen zu Dirk Oschmanns Buch »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung«
Um es gleich vorweg zu sagen: Diese Streitschrift muss man lesen! Sie verhandelt nicht nur die asymmetrischen Verhältnisse von Ost- und Westdeutschen seit 1990, sondern liefert immanent eine Zustandsbeschreibung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2023, die es in sich hat.
Unterschiedliche Reaktionen
Schon Oschmanns Vorträge und Publikationen, die dem Buch vorausgingen, sind auf ebenso großen Zuspruch wie deutliche Ablehnung gestoßen. Mit seiner Grundthese, die Menschen in den fünf Bundesländern, die seit 1990 zur Bundesrepublik Deutschland gehören, lebten unter den Bedingungen eines anhaltenden Reichtums-, Macht- und Kommunikationsgefälles, in dem der Westen das Bild des Ostens als laut, dunkel und primitiv bestimmt, sich selbst dagegen als »normal«, das heißt wohlklingend, hell und kultiviert definiert, provoziert er alle, in deren Weltbild die jahrzehntelange bipolare Teilung der Welt bis heute nachhallt. Und das sind nicht wenige, auch im akademischen Milieu, in dem Oschmann noch dazu viele Nutznießer der beschriebenen Zustände ausmacht. Für die kann er nur ein Nestbeschmutzer sein, dieser Germanistik-professor aus dem sächsischen Leipzig, ein weißer Rabe in der bundesdeutschen Universitätslandschaft, der als bildungsfernes Arbeiterkind aus dem Osten Karriere im westlich dominierten Wissenschaftsbetrieb gemacht hat und sich nun anmaßt, voller Empörung die Mechanismen, mit denen der Osten dauerhaft enteignet, ausgebeutet und abgewertet wird, zu analysieren.
Die heftigen Reaktionen auf Oschmanns Text beweisen allerdings, dass gerade eine emotional aufgeladene Streitschrift jene Kraft freisetzen kann, die notwendig ist, um einen tradierten Diskurs der Macht aufzubrechen, denn die Tatsachen, die der Autor mit großer Klarheit und Schärfe vorträgt, sind, durch Studien und Statistiken belegt, alle längst bekannt. Doch existenzielle Erschütterungen, gebrochene Biografien, vernichtete Träume, Identitäts- und Werteverluste sind als kollektive Erfahrung immer auch mit starken, über Generationen nachwirkenden Gefühlen verbunden. Wer das bei der Betrachtung sozialer Prozesse ausklammert, kann oder will sie nicht wirklich verstehen. Es ist Dirk Oschmanns Verdienst, diese Dimension wieder in den Diskurs eingeführt zu haben.
Die Frage, wie der Westen über den Osten spricht, welche Unterstellungen, Zuschreibungen und Projektionen dabei transportiert werden und welche Folgen das für »Ossis« wie für »Wessis« hat, ist das Hauptthema des Buches. Hier ist der Germanist Oschmann ganz in seinem Element, seine Analysen sind klar, nachvollziehbar und erschütternd.
Für ihn existiert die Bedrohung der Demokratie, die dem Osten, etwa wegen seiner Affinität zur AfD, ständig zugeschrieben wird, auf einer ganz anderen, gesamtdeutschen Ebene. Auf den gängigen Vorwurf, die Ostdeutschen hätten wegen ihrer Herkunft aus einer Diktatur keinen Bezug zur Demokratie erwidert er: »Doch der Osten hat ja nicht nur diese Diktaturerfahrung und dadurch etwas weniger politische Erfahrung, sondern ganz im Gegenteil, er hat ein Vielfaches an politischer Erfahrung, Diktaturerfahrung, Revolutions- und Umsturzerfahrung, dann Erfahrungen in unmittelbarer Basisdemokratie und schließlich Erfahrungen mit der gegenwärtigen Spielart der Demokratie als ›Post-Demokratie‹.« (Ein Begriff, den er von Ranciére übernimmt.) Und schließt daraus: »Aufgrund dessen hat er logischerweise die Möglichkeit eines hochkomplexen Vergleichs, der ihm selbstredend gestattet, Dinge anders und manches schärfer zu sehen.«
Aus Sicht der »Sieger« muss allerdings verhindert werden, dass davon Gebrauch gemacht wird. Genau das liegt hinter den von Oschmann beschriebenen Mechanismen von Ausgrenzung und Abwertung. Solche Bezüge herzustellen, vermeidet der Autor allerdings konsequent.
Osten als eine Art moderne Kolonie
Leider verbleibt seine Empörung dadurch überwiegend im Moralischen. Die Erkenntnis, dass die von ihm beschriebenen machtpolitischen Entscheidungen, die den Osten in eine Art moderne Kolonie verwandelt haben, aus Sicht des Kapitals sinnvoll und profitabel sind, passte allerdings auch schlecht in eine Streitschrift. Doch die Attitüde des Autors: »Das hätte man alles ganz anders und viel besser machen können!«, erscheint angesichts der Rigorosität, mit der sich Kapitalinteressen auch nach dem Sieg über den Staatssozialismus ohne Rücksicht und vernichtend für die Lebensgrundlagen der Menschheit durchsetzen, einfach zu schwach.
Kritiker haben Oschmann vorgeworfen, er sähe an der deutschen Vereinigung nur das Negative für die Menschen im Osten. Doch natürlich hinterlassen einschneidende Umbrüche, wenn man sie überlebt hat, auch motivierende Erfahrungen. Für mich betreffen sie weniger die Demokratie, die er beschreibt, als vielmehr die Gewissheit, dass Gesellschaften, wie sicher sie sich auch gerieren, schneller an ihr Ende kommen können als gedacht. »Nichts ist unendlich, so sieh das doch ein …«, textete die Band »Karussell« 1987 in der DDR.
Alle Menschen haben Vorurteile. Dirk Oschmann bestätigt diese Erkenntnis mit seiner einseitigen, holzschnitt-artigen Sicht auf die DDR, in der er 22 Jahre gelebt hat. Oder wollte er sich einfach nur weitere Auseinandersetzungen ersparen?
Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Ullstein, Berlin 2023, 224 Seiten, 19,99 Euro