Skrupulös komponiert
29. April 2023
Hans-Albert Walters Anthologie über deutsche Exilliteratur
Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg) hat eine herausragende Anthologie über die deutsche Exilliteratur herausgegeben. Die drei Bände umfassende Sammlung mit Texten, die der Literaturwissenschaftler Hans-Albert Walter ursprünglich bereits 1999 im Verlag der Büchergilde veröffentlichen wollte, sollte den Abschluss der von ihm herausgegebenen Bibliothek der Exilliteratur bilden. Leider ist es zu der Veröffentlichung damals nicht gekommen.
Erstmals hatte Walter die geplante Anthologie in einem Brief an den Verleger der Büchergilde erwähnt, als er schrieb, dass die Sammlung in den Autorenvertrag mit aufgenommen werden solle. Nur durch Zufall wurden 2016 nach Walters Tod die Unterlagen zu der Anthologie in einem Karton seines Nachlasses gefunden. Sechs Jahre hat es dann noch gedauert, bis diese einzigartige Sammlung endlich durch Peter Graf und Ulrich Faure veröffentlicht wurde. Aufgrund des Umfangs von 1.357 Seiten sind drei Bücher im Schuber entstanden.
Lebenswerk: Exilliteratur erforscht
Walters Lebenswerk war die Erforschung der Exilliteratur, wozu er auch zahlreiche Arbeiten veröffentlichte. Er leitete von 1976 bis 1981 die Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur an der dortigen Universität – heute trägt die Einrichtung den Namen Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur. In den Büchern sind selten veröffentliche Texte aus den Feuilletons der Exilzeitungen zusammengestellt. »Hier begegnet uns diese Literatur in ihren kleinen Prosaformen, einem Genre, das von zahlreichen editorischen Rezipienten des Exils ausgesprochen beiläufig behandelt, wenn nicht überhaupt ignoriert worden ist.« (S. 1.307) Weiter schrieb er in seinem ursprünglichen Vorwort, das nun als Nachwort abgedruckt ist: »So ist unser Querschnitt unversehens zum ersten geworden, der überhaupt vorgelegt wird – wiederum ganz ohne Absicht, aber kaum zufällig, wenn man an die schwierige Quellenlage und an die zu bewältigenden Stoffmassen denkt.« (S. 1.311)
Für die Anthologie hat Walter zehntausende Seiten verschiedener Exilzeitungen ausgewertet. Allein diese Auswahl ist beeindruckend. Dabei sind unter anderem die Internationale Literatur (Moskau), die Neue Weltbühne (Prag, Zürich, Paris), das Neue Tage-Buch (Paris), Die Sammlung (Amsterdam) und die Neuen Deutschen Blätter (u. a. Paris und Zürich). Ausgewertet hat er auch Tageszeitungen, wie das in Frankreich erschienene Pariser Tagblatt und die Pariser Tageszeitung, den Aufbau aus New York und die Londoner Zeitung.
Auszüge aus Romanen und größeren Werken sind in die Anthologie nicht aufgenommen worden. Trotzdem sind die bedeutendsten Autorinnen und Autoren aus dem Exil in den Bänden vertreten. Fast alle haben neben den großen Romanen der Exilliteratur auch kleinere Formate wie feuilletonistische Zeitungsartikel gepflegt. Bekannte Namen wie Bertolt Brecht, Anna Seghers, Stefan Zweig, Egon Erwin Kisch stehen neben heute nicht mehr bekannten Namen wie Ossip Kalenter, Iwan Heilbut oder Moritz Goldstein. Zusammen sind es eher zufällig ausgewählte 92 Autorinnen und Autoren. »Bei der Auswahl habe ich Wert darauf gelegt, dass möglichst viele verschiedenartige Stoffe und Themen von möglichst vielen Verfassern dargeboten werden sollten, bekannten wie vergessenen. Die Autoren sollten mit für sie charakteristischen Beiträgen vertreten sein«, so Walter.
Für eine bessere Übersicht hat Walter die Texte thematisch zusammengefasst. »Bei der hochgradigen Politisierung des literarischen Exils überrascht es nicht, dass die Beschäftigung mit dem politischen Geschehen der eigenen Lebensepoche in ihren Arbeiten den größten Teil einnimmt.« Entsprechend ist das Kapitel »Chronik der Zeit« im zweiten Band das umfangreichste. Ähnlich groß ist das Kapitel »Deutschland von außen gesehen«. In den Texten wird deutlich, wie sich die Schriftsteller immer wieder mit der Situation in Deutschland auseinandergesetzt haben. Weitere Kapitel behandeln das »Jüdische Schicksal« beispielhaft in Anna Seghers Erzählung »Der Ausflug der toten Mädchen« und das »Exil« selbst.
Immanente Gegensätzlichkeit der Texte
Als sich 1997 abzeichnete, dass die Büchergilde das Buch in diesem Umfang nicht veröffentlichen kann, verteidigte Hans-Albert Walter die Sammlung mit den Worten: »Die Auswahl ist ein skrupulös komponiertes Ganzes, das von der Vielfalt und Heterogenität, ja, der immanenten Gegensätzlichkeit der Texte lebt. Sinn und Zweck einer solchen Anthologie kann es nur sein, die Fülle von Widersprüchen zu dokumentieren, aus der sich die Literatur des deutschen Exils sui generis konstituiert. Sie wird nur in einem in sich geschlossenen Umgriff sicht- und für den Leser nachvollziehbar.« (S. 16)
Am Ende des dritten Bands ist ein kleines Autorenlexikon angehängt. Bei diesem wäre etwas mehr Ausführlichkeit wünschenswert. Die Anthologie ist für alle eine Pflicht, die sich für Exilliteratur interessieren und schöne Bücher lieben.