Biographie ausgedacht

geschrieben von Nils Weigt

13. September 2023

Buch thematisiert falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung

Es ist wieder passiert: Ein nichtjüdischer Deutscher inszeniert eine jüdische Zugehörigkeit und bringt diese kraftvoll in den Diskurs ein. Die Rede ist diesmal von dem Journalisten Fabian Wolff. Schon 2018 war die Fälschung des Antifaschisten Wolfgang Seibert aufgeflogen. Den Fall Seibert nehmen Johannes Spohr und Clemens Böckmann zum Anlass, um in ihrem 2022 erschienenen Band »Phantastische Gesellschaft. Gespräche über falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung« gemeinsam mit Gesprächspartner:innen über das Thema nachzudenken. Seit dem Skandal um das Buch »Bruchstücke« von Binjamin Wilkomirski (Bruno Dössekker) in den 1990er-Jahren – er hatte ebenfalls eine Shoah-Biografie imaginiert – ist das Thema auch einer internationalen Öffentlichkeit bekannt.

Im Oktober 2018 erschien ein reißerischer und, wie Rosa Fava im Band betont, durchaus antisemitischer Spiegel-Artikel, der aufdeckte, dass sich der langjährige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Pinneberg seine Biografie als Kind von Shoah-Überlebenden nur ausgedacht hatte. Johannes Spohr ist von dem Fall persönlich betroffen. Er hatte Veranstaltungen zu jüdischen und linken Perspektiven mit dem ebenfalls im Band vorkommenden Miklós Klaus Rózsa und Seibert organisiert und moderiert. Spohr fragt sich im Gespräch mit Barbara Steiner, ob er nicht eher hätte stutzig werden sollen. »Kennengelernt haben wir ihn als Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde. Dass jemand korrekterweise solch ein Amt bekleidet, zweifle ich erst mal nicht an« (S. 84). Erschwerend bei Seibert kommt aber hinzu, dass er sich nicht nur als jüdisch dargestellt hat – ob er nun jüdisch ist oder nicht ist eine innerjüdische Frage –, sondern als Abkömmling von Shoah-Überlebenden. Damit nehme er den Überlebenden ihre eigene Geschichte und ihr Trauma, wie Miriam Rürup betont. »Die Überlebenden selbst konnten sich ihre Geschichte aber gerade nicht aussuchen« (S. 60). Warum sollte man solcherart traumatisierende Erfahrungen überhaupt gemacht haben wollen? Doch nur, weil die (vermeintliche) Identität als Shoah-Überlebende insbesondere in Deutschland von nicht-jüdischen Deutschen mit einer besonderen Aura bedacht wird, wie mehrere Gesprächspartner:innen herausstellen.

Clemens Böckmann und Johannes Spohr (Hg.): Phantastische Gesellschaft. Gespräche über falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung. Neofelis, Berlin 2022, 296 Seiten, 19 Euro

Clemens Böckmann und Johannes Spohr (Hg.): Phantastische Gesellschaft. Gespräche über falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung. Neofelis, Berlin 2022, 296 Seiten, 19 Euro

Dass der Deutschlandfunk in einer Besprechung den verdienstvollen Band als »politisch-therapeutischen Werkstattbericht« bezeichnet, verkennt die fundierte Analyse, die die Herausgeber und ihre Gesprächspartner:innen liefern: In »Phantastische Gesellschaft« nehmen sie eine postnazistische Gesellschaft in den Blick, die gefälschte und geglättete jüdische Opferbiografien gleichsam aus sich selbst heraus produziert, weil sie vom Publikum eben so erwartet werden. Denn die einseitige Zentrierung auf die Opfer entlaste von der Auseinandersetzung mit Täterschaft, wie Stefan Mächler im Band betont (S. 149).

Neben der Imaginierung von falschen Opferbio-grafien werden dabei auch Täterbiografien gefälscht. Seit der Studie »Opa war kein Nazi« (2002) von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall (2002) ist bekannt, wie sehr die Tätervergangenheit in deutschen Familien geschönt wird, gerade auch von den nachfolgenden Generationen. Dies deckt sich auch mit den erschreckenden Ergebnissen der MEMO-Studie von 2020. Dort behaupten tatsächlich 18 Prozent der Befragten, dass in ihren Familien Juden:Jüdinnen geholfen wurde und 54 Prozent, dass es in ihren Familien Opfer gab. Das Hochjazzen der eigenen (Familien-)Biografie geschieht, wie Böckmann und Spohr aufzeigen, in einer neoliberalen und kapitalistisch verfassten Gesellschaft, in der »ein ›kreativer Umgang‹ mit der eigenen Biografie eine Mindestanforderung neoliberaler Selbstvermarktung ist« (S. 271).

Die schmerzliche Erkenntnis nach der Lektüre des Buches ist jedoch auch, dass wir als Antifaschist:innen nicht davor gefeit sind, auf falsche Biografien hereinzufallen oder unbequeme Seiten der eigenen Familiengeschichte auszulagern. »Das Bild, das Wolfgang Seibert öffentlich von sich und seiner Familie zeichnete, gefiel einem bestimmten Segment einer undogmatischen und antifaschistischen Linken, die auch die Kritik an linken Spielarten des Antisemitismus nicht ausklammerte« (S. 28 f.). Gleichwohl betonen die Herausgeber, dass seine tatsächlichen Verdienste durch die Fälschung nicht geschmälert werden.

Seit ihrer Öffnung zum Bund der Antifaschis-t:innen nimmt die VVN-BdA auch Mitglieder auf, deren Angehörige keine Verfolgungs- oder Widerstandsgeschichte haben. Auch ich habe mir schon einmal gewünscht, aus einer Familie astreiner Widerstandskämpfer:innen zu kommen. Nur leider war der Widerstand in Deutschland marginal. Das ist keine Geringschätzung, sondern betont das Heldenhafte des antifaschistischen Widerstands nur noch. Widerspruchsfreie Helden waren die Angehörigen des Widerstands aber mitnichten. Sie waren Menschen, die in einer gegebenen Situation das Richtige getan haben, in einer anderen aber vielleicht nicht. Es ist widersprüchlich. Nehmen wir diese Widersprüche zu Kenntnis. Die Lektüre von »Phantastische Gesellschaft« hilft dabei.