Faszinierende Leben
13. September 2023
Ein vielfältiges, zweibändiges Lesebuch zu Harry und Martha Naujoks
Zwei junge Menschen aus Arbeiterfamilien waren schon früh an Kämpfen beteiligt: Harry Naujoks (1901–1983) gegen den Kapp-Putsch, er wurde Kommunist, überlebte fast zwölf Jahre in -nazistischer Haft, war dort am Widerstand der Häftlinge aktiv beteiligt und berichtete in seinem Buch »Mein Leben im KZ Sachsenhausen« -kenntnisreich davon. Nach 1945 war er jahrzehntelang auf dem Feld der Geschichtspolitik sehr produktiv.
Am »Hamburger Aufstand« beteiligt
Martha Naujoks, geborene Pleul (1903–1998), Kommunistin aus Halle, die 1923 nach Hamburg kam und mit 19 Jahren am »Hamburger Aufstand« teilnahm, floh aus dem Widerstand gegen die Nazis 1935 nach Prag und weiter in die Sowjetunion. Über diese faszinierenden Lebensgeschichten – in ihren historischen Kontexten – wird ab Herbst 2023 ein ungewöhnliches, zweibändiges Lesebuch informieren.
Das Projekt kombiniert 18 Originalbeiträge, bisher unveröffentlichte Erinnerungen, eine kommentierte Neuausgabe des Sachsenhausen-Buchs und die erste umfassende Lebensgeschichte von Martha Naujoks mit Dokumenten aus der Geschichte der Arbeiterbewegung und der KPD, historischen und politischen Informationen und Ausblicken auf die Gegenwart und ihre Erinnerungspolitik. Dazu gibt es noch den Dokumentarfilm »Der Hamburger Aufstand Oktober 1923« (Regie: Klaus Wildenhahn, Gisela Tuchtenhagen und Reiner Etz, 1971, 127 Minuten).
Die Motivation der Herausgeber »Kinder des Widerstands« (Hamburg) und Rainer Naujoks zu diesem vielschichtigen Projekt entsprang der Erfahrung, dass die Geschichten des »linken« Widerstands in der Gesellschaft der BRD nicht annähernd ihrer Bedeutung entsprechend aufgearbeitet wurden. Aus diesem Grund wurde die Neuausgabe von Harry Naujoks 1987 (BRD) und 1989 (DDR) erschienenem Buch »Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936–1942 – Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten« geplant. Daraus erwuchs schrittweise ein antifaschistisches, historisch-politisches und biografisches Panorama.
Größtenteils unbekannte Quellen
Der erste Band »Zwei Leben für die Befreiung – Martha Naujoks und Harry Naujoks« ist in drei Abschnitte unterteilt, zunächst die ausführliche Biografie »Die vergessene Lebensgeschichte der Martha Naujoks«, die für diesen Band verfasst wurde. Sie beruht großteils auf bisher unbekannten Quellen und ist in drei Abschnitte gegliedert: »Aufstand, Widerstand und Flucht« (Jugend, kommunistische Aktivität in den 1920er-Jahren und Widerstand gegen die Nazis), »Parteiausschluss im Exil« (Exil in der Sowjetunion ab 1936, Parteiausschluss von 1937 bis 1939 inmitten des stalinistischen Terrors), »Ein zweites politisches Leben« ab 1946 in Hamburg.
Ebenfalls in Band I sind Informationen und Dokumente zu Harry Naujoks’ Wirken vor 1933 enthalten sowie zu seinen Auseinandersetzungen mit der KPD Hamburg in den Jahren 1949/1950, die zu seinem Rückzug aus Parteifunktionen führten. Auch ein Ausschnitt aus dem prägnanten Vortrag »Das Gestern soll nicht das Heute bestimmen« (1962) ist dokumentiert. Zur Welt, in der Martha und Harry Naujoks politisch aktiv waren, zur sozialen Lage und Kultur der arbeitenden Klassen, zum Aufstieg der Nazis, zu Verfolgung und Terror nach 1933. Eine Vielzahl von Beiträgen namhafter Autor:innen ergänzt das Panorama (Auszüge von Peter Weiss, Eric Hobsbawm, Ulla Plener, Katharina Jacob, Erich Fromm u. v. a.).
Ein Jahrzehnt währende Redaktionsarbeit
Etwas anders ist der Band II aufgebaut, »Über Leben im Inferno – Harry Naujoks: ›Mein Leben im KZ Sachsenhausen‹«. Hier findet sich die edierte Neuausgabe von Harry Naujoks’ »Mein Leben im KZ Sachsenhausen 1936–1942« sowie – in Erstveröffentlichung – das Tagebuch seines Fußmarsches aus Flossenbürg nach Hamburg im Mai 1945. Die Buchfassung wurde mit dem Typoskript verglichen. Dieses war das Ergebnis der über ein Jahrzehnt währenden Redaktionsarbeit von Harry Naujoks und einem Kreis von Sachsenhausen-Überlebenden, den »Kumpelgesprächen«. Aussagekräftige Beispiele von Streichungen und Ergänzungen, beispielsweise durch die Lektorin Ursel Hochmuth, wurden behutsam dokumentiert. Dieser Edition des Sachsenhausen-Buchs sind drei erläuternde Artikel zur faszinierenden kollektiven Entstehungsgeschichte, dem politischen Lektorat bis zur Veröffentlichung und zu seinen historischen Verdiensten und Grenzen zur Seite gestellt (Henning Fischer). Ergänzt wird dieser Band unter anderem von Erinnerungen an Harry Naujoks und von Kurzbiografien der Beteiligten der »Kumpelgespräche«.
So ein Buch gibt es nicht oft: von Angehörigen der Widerständler edierte beeindruckende Lebensgeschichten in ihrer Zeit porträtiert, ein wichtiger Erinnerungsbericht aus dem Widerstand in den KZs neu zugänglich gemacht.
In den Lesebüchern sind 18 Originalbeiträge und acht Erstveröffentlichungen enthalten sowie Beiträge u. a. von Katharina Jacob, Ulla Plener, Eric Hobsbawm, Max Czollek, Umberto Eco, Hermann Kaienburg, Theodor W. Adorno, Valentin Falin, Peter Weiss, Ishay Landa, Jiři Hájek, Lucien Sève, Erich Fromm u. v. a. in Auszügen.