Empathie und Mitgefühl
11. Januar 2024
Leserbrief zu »Gegen den Tod und für das Leben!«, in antifa November-/Dezemberausgabe 2023, Seite 9
Wenn der Autor im Zusammenhang mit dem barbarischen Überfall auf israelisches Gebiet vom 7. Oktober 2023 fordert, als »Antifaschist:innen müssen wir parteiisch sein, empathisch und mitfühlend«, kann ich ihm nur voll zustimmen. Allerdings enthält der Artikel von Markus Tervooren einige begriffliche und inhaltliche Ungenauigkeiten und auch Unterstellungen gegenüber »linke(n) und antifaschistische(n) Stimmen«, die ein Hinterfragen erforderlich machen.
»Parteiisch« zu sein kann für mich nicht in einer Alternative Pro Israel oder Pro Palästina liegen, sondern kann nur in der Parteinahme für das gleiche Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit und für ein humanitäres Völkerrecht bestehen – unabhängig von Ethnie, Religion oder Weltanschauung. Empathie und Mitgefühl muss allen jüdischen und palästinensischen Opfern von Gewalt, Terror, Unterdrückung und Demütigung gelten. Jüdische und muslimische Menschen und Einrichtungen müssen gleichermaßen vor Anfeindungen, Hass und Gewalt geschützt werden. Überall.
Wenn Tervooren fragt, warum »linke und antifaschistische Stimmen jetzt [nach dem Terrorakt vom 7. Oktober] (…) den jüdischen Staat, (und) seine Armee reflexartig zur ›Vernunft‹ rufen müssen«, dann stellt sich für mich die Gegenfrage, wozu denn verantwortungsvolle Antifaschist:innen, die das (Über)Leben von Geiseln, von Jüd:innen und Palästinenser:innen in Israel, Gaza und auf der Westbank sichern möchten und einen Flächenbrand verhindern wollen, in der gegenwärtigen Situation sonst aufrufen sollten. Gibt es denn in der aktuellen Kriegssituation eine antifaschistische Alternative zur Vernunft?
Was meint Tervooren mit dem Begriff »jüdischer Staat«? Meines Wissens ist bislang die alte Zweistaatenforderung unerfüllt. Der Staat Israel umfasst jüdische und palästinensische Bürger:innen.
Der Autor fragt u. a., »warum das Dilemma, dass Israel sich gegen seine Feinde mit militärischer Gewalt verteidigen muss (…) und dabei unschuldige Menschen in Gaza sterben, ausschließlich Israel angelastet (wird)«. Dass der Staat seine Existenz auch militärisch absichern können muss, steht außer Frage, und das tut er mit einer Weltspitzenausstattung. Leider sind in dieser Hinsicht vor dem 7. Oktober gravierende Fehler geschehen; viele Opfer hätten verhindert werden können.
Das »Dilemma« dieser Frage von Tervooren besteht meines Erachtens in der inhaltlichen Unbestimmtheit des Begriffs »Israel«. Die gegenwärtige Ultra-Rechts-Regierung setzt aus durchsichtigen Gründen (ihr geht es vor allem um das politische Überleben danach) und entgegen den Protesten der Geiselangehörigen und der Weltöffentlichkeit – ausschließlich auf Vernichtung der Hamas; Tod, Hunger und grenzenloses Leid zigtausender unschuldiger Kinder und Erwachsener riskierend. Es sind gerade auch jüdische Stimmen, die das militärische Vorgehen ihrer Staatsführung für unverantwortlich, perspektivlos und gefährlich halten. Wen und was also meint Tervooren mit »Israel«?
Der Autor findet es u. a. »anmaßend, in dieser Situation der Trauer, Angst und auch Wut, das antisemitische Morden der Hamas dazu zu benutzen, mit der israelischen Politik abzurechnen und ›Kontextualisierung‹ zu fordern«. Die benannten Gefühle angesichts der Terrorakte islamistisch-palästinensischer Gruppen sind uneingeschränkt nachvollziehbar. Aber das kann mich als Antifaschisten, der sich der Geschichte verpflichtet fühlt und gegen Menschenfeindlichkeit in jeglicher Spielart kämpft, doch nicht dazu bringen, die lange Vorgeschichte und den politisch-historischen Kontext des gegenwärtigen Krieges außer Acht zu lassen. Was ist daran »anmaßend«, wenn ich – wie jüngst UN-Generalsekretär Guterres – einerseits die »schrecklichen und beispiellosen Terrorakte« der Hamas verurteile und andererseits kontextualisiere, indem ich feststelle, dass jene Angriffe »nicht im luftleeren Raum« stattgefunden haben?
Kritik an dem Vorgehen der Ultra-Rechts-Regierung unter Netanjahu und der Besatzungspolitik verschiedener Vorgängerregierungen bei gleichzeitiger Ablehnung nationalistisch-aggressiver Haltungen palästinensischer Vertretungen auch jenseits von Hamas soll im Sinne des Autors »anmaßend« sein? Bin ich also ein »israelbezogener Antisemit«?
Für einen Krieg der Netanjahu-Regierung, der vorgibt, die Hamas auslöschen zu wollen, gibt es aus meiner Sicht weder moralische noch politische und nicht einmal militärische Rechtfertigungen. Ein solcher Krieg nimmt Hunderttausende von unschuldigen Opfern in Kauf, verhindert eine notwendige friedliche Lösung des Israel-Palästina-Konflikts auf ewige Zeiten und riskiert die Gefahr eines Flächenbrands, der einen Weltkrieg zur Folge haben kann.
Ewald Leppin, Mitglied der Berliner VVN-BdA, 8.11.2023