Komplexes Israel
11. Januar 2024
Fünf Fragen zum kleinen Land am Mittelmeer
Ist Israel eine Demokratie? Ist Israel ein Apartheidstaat? Ist Kritik an Israel antisemitisch? Ist Israel ein fundamentalistischer Staat? Gehört Palästina den Palästinenser:innen? Diesen Fragen widmet sich Richard C. Schneider in seinem neuesten Buch »Die Sache mit Israel. Fünf Fragen zu einem komplizierten Land«.
Schneider, Sohn ungarischer Shoah-Überlebender und langjähriger Leiter des ARD-Studios Tel Aviv kennt sich aus mit Israel, was nicht gerade für viele Stimmen in der deutschen Medienlandschaft gilt. Schneiders Wissen über die israelische Gesellschaft ist dabei nicht nur theoretischer Natur, sondern entstammt zahlreichen Gesprächen mit Israelis unterschiedlicher politischer und religiöser Prägungen. Die Schilderungen dieser Gespräche, die O-Töne seiner Gesprächspartner:innen machen die Lektüre zu einer ausgesprochen kurzweiligen. Durch Schneiders Buch spricht die unglaublich diverse israelische Gesellschaft zur deutschsprachigen Leserin und führt (hoffentlich) zur Überprüfung einiger liebgewonnener, jedoch zumeist verkürzter Vorstellungen über das kleine Land am Mittelmeer, das auch gerade dieser Tage wieder im Fokus der weltweiten Aufmerksamkeit steht.
»Israel ist ein überaus komplexes, kompliziertes Land. Die Gesellschaft auf seine extremen Anteile zu reduzieren, macht demjenigen, der ein ganz bestimmtes Weltbild bestätigt haben will, das Leben sicher leicht. Doch damit versteht er oder sie noch lange nicht, wie Israel wirklich tickt. (…) Israel ist ein spannendes Land und ein Land, in dem man etwas lernen kann, was in der deutschen Gesellschaft kaum vorhanden ist: die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten.« (S. 26)
Man merkt bei der Lektüre, wie wichtig dieses Land (nicht nur) für Schneider ist, wie sehr ihn die Entwicklungen vor Ort beschäftigen, nahegehen. Israel ist eben kein Land wie jedes andere, sondern die Rückvergewisserung für Jüdinnen und Juden weltweit: Wenn es (mal wieder) schlecht läuft, bleibt ihnen dieser Zufluchtsort. Neben der konstanten Bedrohung durch Israels Feinde wie den Iran ist dieses Land nun jedoch auch von innen bedroht: durch eine rechte messianische Regierung, die die israelische Demokratie abschaffen möchte.
Vor dem Hintergrund der monatelangen Massenproteste gegen die Justizreform und die damit einhergehende Schwächung des Militärs schreibt Schneider im März 2023 im Vorwort zu seinem Buch, dass diese »Israel schon sehr bald teuer zu stehen kommen könnte« (S. 22) und von einer »Realität, die möglicherweise bald eine ganz andere sein wird, als wir sie bislang kannten« (S. 31). Die Lektüre dieser Stellen ist schwer auszuhalten, wenn man sich vergegenwärtigt, was am 7. Oktober 2023 geschah. Viele der Soldat:innen, die sonst die Grenzen zum Gazastreifen bewacht hatten, waren ins Westjordanland verlegt worden, da sich dort seit Monaten die Gewalt zwischen religiösen Siedler:innen und Palästinenser:innen hochschaukelt. Den religiös-ideologischen Hintergründen dieser Bewegung widmet Schneider zahlreiche Seiten seines Buches. War der Zionismus auch in seinen säkularen Ausprägungen zwar immer schon auch religiös grundiert (Rückkehr nach Zion), entfernte »sich der sogenannte Religiöse Zionismus von dem, was Theodor Herzl unter Zionismus verstand«: Weg vom Antisemitismus hin »zur Herrschaft über den Boden, über das Land. Denn auf diesem Wege soll die spirituelle Freiheit, die Erlösung kommen, eine völlig andere Form der Freiheit.« (S. 150) Das Handeln der extrem rechten Koalitionspartner im Kabinett Netanjahu ist auf eine »erlöste Zukunft« gerichtet, auf ein halachisches (dem jüdischen Gesetz folgendes) Israel, in dem kein Platz mehr ist für säkulare jüdische Israelis und auch nicht für Araber:innen.
Für derlei Ambivalenzen haben viele Kritiker:innen Israels nichts übrig, ihnen geht es um eine Abschaffung Israels insgesamt. »Die antizionistische Bewegung verschweigt überdies zwei wichtige Faktoren, die sie notgedrungen beiseite schieben muss, da sie das eigene Weltbild empfindlich stören: Dass Israel in Folge jahrhundertelanger Unterdrückung und Verfolgung der Juden gegründet wurde und dass Israel, erst recht nach der (…) Shoah, Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des jüdischen Volkes ist.« (S. 113 f.). Besonders perfide dabei sei Schneider zufolge die Gleichsetzung Israels mit dem Dritten Reich, auch dieser Tage auf zahlreichen Demonstrationen und in reichweitestarken Magazinen veröffentlichten Essays zu beobachten. Wer kein Unterschied zwischen Gaza und dem Warschauer Ghetto erkennen kann, dem sind ganz offensichtlich die Maßstäbe abhanden gekommen.