Krise als Ausgangspunkt
11. Januar 2024
Die Unsicherheit des »Westens« als Wegweiser in die Zukunft. Alice Hasters’ neues Buch
Die Journalistin Alice Hasters hat mit ihrem Debüt »Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten« und ihrem Podcast »Feuer & Brot« mit Maxi Häcke bundesweit Bekanntheit erlangt. In ihrem neuen Buch überträgt sie die Emotionen und Erfahrungen persönlicher Identitätskrisen auf »den Westen« inmitten multipler, weltweiter Krisen.
Klimakrise, Wirtschaftskrise, Energiekrise, you name it – Hasters folgt in dem Buch der These, dass der »Westen« durch aktuelle Entwicklungen in Unsicherheit versetzt ist – und daher gesamtgesellschaftlich eine emotionale Auseinandersetzung mit sozialen Veränderungen stattfindet. Diese findet sich im Privaten genauso wie im Politischen. Krisen werden als wichtiger Ausgangspunk für notwendige Transformationsprozesse skizziert.
Gegliedert ist das Buch in eine kurze Begriffsklärung, einen Abriss der westlichen »Identität« sowie dessen emotionale Reaktionen auf die aktuellen Veränderungen. Mit gewohnter Leichtigkeit und gut verständlich reitet Hasters dabei im ersten Teil über die »Identitätskrisen« des Westens – von der Veränderung des Kapitalismus und der Geschlechterverhältnisse, vom Selbstbild des guten, freiheitsliebenden und hilfsbereiten Westens gegenüber den armen, autoritären und hilfebedürftigen Nationen der sogenannten Dritten Welt. Die als zentral verstandenen Werte Gerechtigkeit, Freiheit und Wohlstand werden dabei von ihr seziert, und anhand vielfältiger Beispiele wird aufgezeigt, wie diese eher Illusion als Orientierung sind. Hasters macht klar, dass die Krise des Westens auch eine Krise der deutschen Selbsterzählung ist, zu der Goethe und Schiller ebenso gehören wie der NSU, die Finanzkrise genauso wie der Eurovision Song Contest. Der Westen schafft ein Identitätsangebot – und dieses ist genau wie der Kapitalismus so wirkmächtig, dass die Vorstellung, ohne ihn zu leben, schmerzvoll und angsteinflößend ist.
Alice Hasters blickt in der Geschichte zurück, verknüpft gesellschaftliche Entwicklungen mit ihrem persönlichen Erleben als Teenager und erfolgreiche Autorin – und orientiert sich in ihrer Analyse an der Zukunft, die entsteht, wenn etwas Unbekanntes denkbar wird. Denn Neuerungen bedeuten auch immer, dass etwas Bekanntes stirbt, und was sich im »Westen« ändern bzw. sterben muss, ist eine essenzielle Frage. Das einzige, was laut Hasters Bestand hat, ist die Anerkennung von ständigem Wandel. Und der Wunsch danach, ein würdevolles Leben für alle Menschen weltweit zu ermöglichen und sich zu fragen, was es dafür braucht – in ehrlicher Reflexion und einem solidarischen Umgang miteinander, in dem Fragen der Fürsorge füreinander zentraler sind als die Abgrenzung voneinander.
Das Buch bietet eine interessante Zusammenführung verschiedener Gedanken. Hasters springt dabei sowohl in Themen als auch Stilen und macht so Krisenerfahrungen in diesen Schreibsprüngen greifbar. Die kreative Idee, die fünf Phasen der Trauer auf eine gesamte Gesellschaftserzählung anzuwenden, ist unterhaltsam und der Ausblick des Buches hoffnungsvoll. Ein Lesetipp für alle, die jenseits akademischen Vokabulars wissen möchten, warum wir mehr über Winnetou als über Neoliberalismus sprechen.