Den Schleier zerrissen

geschrieben von Silke Makowski

2. März 2024

Gegen das Vergessen: Herausragende Lokalstudie zum Faschismus in Walldorf, Nordbaden

Ende 2023 erschien mit Andy Herrmanns Band »Walldorf im Nationalsozialismus – Gleichschaltung, Verfolgung, Widerstand in einer nordbadischen Kleinstadt« eine umfassende Studie zum Aufstieg des Faschismus und der zwölfjährigen Terrorherrschaft abseits der Metropolen. Das knapp 200seitige, reich bebilderte Werk füllt eine Lücke, da – wie so oft in der Lokalgeschichtsschreibung – die Nazizeit in Walldorf bisher kaum thematisiert wurde. Dabei begeht Herrmann nicht den Fehler, diesen Zeitraum isoliert zu betrachten, sondern beginnt schon mit den 1920er-Jahren: Die ersten Kapitel beschreiben die wirtschaftlichen Bedingungen in der von Industrie und Landwirtschaft geprägten Gemeinde, vor allem aber die parteipolitische Lage. Erstaunlicherweise war die Kleinstadt eine kommunistische Hochburg: Die KPD war ab 1928 bei den Wahlen mehrmals die stärkste Kraft, und noch im März 1933 wählten 25,8 Prozent der Walldorfer*innen die KPD. Entsprechend hitzig waren die Auseinandersetzungen mit der erstarkenden NSDAP sowohl im Gemeinderat als auch auf der Straße.

Inszenierung des NS-Faschismus illustriert

Der Hauptteil widmet sich der Zeit ab 1933, beginnend bei den einzelnen NS-Gliederungen einschließlich ihres lokalen Personals sowie beim Umbau der Kommunalverwaltung. Mit vielen Beispielen und Bilddokumenten wird die Inszenierung des NS-Faschismus illustriert, insbesondere bei Fest-umzügen an Feiertagen. Ausführliche Abschnitte gehen auf die verschiedenen Lebensbereiche ein, die von »Gleichschaltung« und Zerschlagung betroffen waren – von der Schule über Vereine bis hin zu den Gewerkschaften. Dazwischen werden die Naziorganisationen vorgestellt, die den Alltag immer stärker dominierten und die frühere Vielfalt ersetzten. Dazu gehörte der Reichsarbeitsdienst (RAD), der in Walldorf mit dem Autobahnbau und einem RAD-Lager für Frauen präsent war. Letzteres richteten die Nazis 1937 im Astor-Haus ein und zwangen dafür die alten Menschen zum Auszug, die zuvor dank der wohltätigen Astor-Stiftung dort gelebt hatten. Der erstarkende Antisemitismus wird anhand vieler Einzelfälle beschrieben, wobei das Novemberpogrom 1938 besonders viel Raum erhält. Detailliert werden Abläufe und Gewalttaten geschildert, vor allem aber die Täter benannt.

Selbstverständlich gehen längere Kapitel auf die Verfolgung der oppositionellen Walldorfer*innen ein und würdigen den örtlichen Widerstand. Der frühe Terror der Nazis gegen die Kommunist*innen, der mit Hausdurchsuchungen und Verhaftungen begonnen hatte, erlebte am 26. Juni 1933 einen blutigen Höhepunkt: Nachdem es am Vorabend auf dem Feuerwehrfest im benachbarten Sandhausen zu einer Schlägerei zwischen Nazis und Antifaschist*innen gekommen war, organisierte die SS eine blutige Racheaktion. Anhand einer vorbereiteten Liste wurden 13 KPD-Mitglieder und -Unterstützer im Hof des Hotels »Astoria« zusammengetrieben und stundenlang misshandelt.

Kommunistischer Widerstand formiert sich

Andy Herrmann: Walldorf im National-sozialismus – Gleichschaltung, Verfolgung, Widerstand in einer nordbadischen Kleinstadt. Ubstadt-Weiher 2023, 192 Seiten, 19,90 Euro

Andy Herrmann: Walldorf im National-sozialismus – Gleichschaltung, Verfolgung, Widerstand in einer nordbadischen Kleinstadt. Ubstadt-Weiher 2023, 192 Seiten, 19,90 Euro

Trotz der Verfolgungen formierte sich in der Kleinstadt kommunistischer Widerstand, vor allem als Ende 1933 der illegale KPD-Unterbezirk Heidelberg wiederaufgebaut wurde. Im Mittelpunkt standen antifaschistische Flugblätter, die aus den Mitgliedsbeiträgen finanziert wurden. Weil die KPD Walldorf erfolgreich ihren Abzugsapparat vor den Nazis versteckt hatte, wurden hier die Schriften für den ganzen Unterbezirk vervielfältigt. Am 10. Juni 1934 wurde der frühere Walldorfer KPD-Leiter Georg Kaufmann von seinem Bruder Leonhard denunziert, und die Gendarmerie entdeckte die frisch gedruckten Flugblätter in Kaufmanns Schweinestall. Es folgte eine Verhaftungswelle in der ganzen Region, und elf Antifaschisten wurden im März 1935 zu Gefängnisstrafen verurteilt, was das Ende des organisierten Widerstands in der Gemeinde bedeutete.

Bei der Lektüre ist nicht zu übersehen, dass der Walldorfer Autor sowohl aus antifaschistischer Überzeugung als auch aus enger Verbundenheit mit der örtlichen Geschichte geforscht hat: Als Sprecher der VVN-BdA Heidelberg und als Vorstandsmitglied der Vereinigung Walldorfer Heimatfreunde konnte Andy Herrmann nicht nur auf die einschlägige Forschungsliteratur und staatliche Archive zurückgreifen. Vielmehr kennt er auch die Nachlässe und Privatbestände regionaler Widerstandskämpfer*innen und konnte zahllose Hinweise und mündliche Überlieferungen der Walldorfer Bevölkerung nutzen. Diese ungewöhnliche Mischung ist es, die das Buch für Antifaschist*innen, Lokalforscher*innen und die Einwohner*innen gleichermaßen interessant macht.

Dass er akribisch Strukturen offenlegt und Täter*innen benennt, hat aber auch Protest der Nachkommen hervorgerufen, wie Herrmann in seinem Vorwort anmerkt. Gegen die Hemmungen, die braune Vergangenheit des Ortes anzutasten, wendet sich Herrmann mit dem Appell Esther Bejaranos: »Ihr tragt keine Schuld für das, was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert.« Der Band hat es für die Walldorfer Bevölkerung unmöglich gemacht, den Schleier des Vergessens über die NS-Zeit zu breiten.