Die Pflicht zum Nein
2. März 2024
Was uns der Auschwitz-Prozess vor 60 Jahren noch heute sagt
Der Journalist Kurt Nelhiebel war Zeuge des -Auschwitz-Prozesses. Und der Schoah-Überlebende Hans Frankenthal war Zeuge im Auschwitz-Prozess. Dieser begann vor 60 Jahren und lief rund 20 Monate.
Unter dem Namen Conrad Taler hatte Nelhiebel seine über 20 Prozessreportagen später veröffent-licht, eine Neuauflage seines Buches »Asche auf vereisten Wegen – eine Chronik des Grauens« ist 2015 bei PapyRossa erschienen, ergänzt um aufschlussreiche Dokumente. Einige auch von und über Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dem legendären Initiator des Auschwitz-Prozesses. Dieser wurde damals wie heute als die wichtigste Gerichtsverhandlung in Deutschland seit 1945 angesehen (Siehe antifa-Ausgabe September/Oktober 2023).
Auch Hans Frankenthal (1926–1999) hat Erinnerungen hinterlassen. Als aktives Mitglied der VVN-BdA in Dortmund und Mitglied des Zentralrats der Juden schilderte er erschütternde Erlebnisse als jüdischer Überlebender des Holocaust, als Zwangsarbeiter der IG Farben in Auschwitz-Monowitz und als Teilnehmer eines Todesmarschs gen Westen. Im Auschwitz-Prozess hat er Mörder wie den Bundeswehrangehörigen Gerhard Neubert identifiziert, der arbeitsunfähige Zwangsarbeiter ins Gas sandte.
Doch das wurde vom Gericht nicht als Beweis für eine Mordtat angesehen. Konkrete Verbrechen wollten die Richter in Handlungen wie denen von Neubert oftmals nicht erkennen – und die »bloße« Teilnahme an den großen kollektiven Verbrechen galt 1963/1964 noch nicht als strafbar. Anders als in den RAF-Prozessen der 1970er-/1980er-Jahre, in denen alle, die »dabei waren«, als Täter angesehen wurden. Und anders als im späten Demjanjuk-Prozess im Jahr 2011 und in folgenden. John Demjanjuk galt als KZ-Aufseher nunmehr zugleich als Täter. Und die RAF-Angeklagten galten als Linke, und die waren immer schärfer anzupacken in der BRD.
Es gibt wohl kein Buch über Auschwitz in derartig eindrucksvoller kompakter Form wie jenes von Taler/Nelhiebel. Was waren das für Menschen, die da vor Gericht standen? Anders als heutige Angeklagte zumeist hielten sie sich keine Aktendeckel vors Gesicht, wenn sie erschienen und Kameras auf sie gerichtet waren. Es waren biedere Bürger, meist Mittelständler. Sie hatten über 15 Jahre in ihren Stadtvierteln gelebt, ohne angefeindet zu werden. Warum auch? Sie hätten ja nichts Unrechtes getan, oder sie hatten nur Befehlen gehorcht. Das glaubte man ihnen – nur im Gerichtssaal kamen sie damit häufig nicht durch.
Was war das für eine Zeit? In jedem Fall eine, in die ein Auschwitz-Prozess nicht hineinpasste. Es ist der SPD von Hessen, der Partei von Fritz Bauer und ihrem Ministerpräsidenten Georg August Zinn sowie den Forderungen von Antifaschisten bzw. Hinterbliebenen zu verdanken, dass es zu der Anklage kam. Es war jene Zeit, als ein Verfasser der Ausführungsbestimmungen zu den Nürnberger Rassegesetzen der Nazis, Hans Globke, in der Bundesrepublik Leiter des Kanzleramtes sein konnte. Und ein Baumeister von KZ, der am Leid der Insassen verdiente, Heinrich Lübke, wurde in der BRD gar Bundespräsident. Als solcher verlieh er dem Großindustriellen Heinrich Bütefisch das Bundesverdienstkreuz, einer Person, die den Einsatz von Zwangsarbeitern in IG-Farben-Werken in Auschwitz organisiert hatte. Der Orden wurde nach Enthüllungen der VVN-Zeitung Die Tat und den Veröffentlichungen von Kurt Nelhiebel wieder aberkannt.
Vor allem war es die Zeit der Kommunistenverfolgungen und des Aufbaus der Bundeswehr unter Leitung von Nazigenerälen. Kanzler Konrad Adenauer verlangte, mit der »Naziriecherei« aufzuhören. Der Journalist Golo Mann, Sohn von Thomas Mann, mahnte: »Wo Auschwitz möglich war, ist alles wieder möglich.« Auf jeden Fall war dies damals möglich: Widerstandskämpfern gegen die Unrechtsherrschaft wurde die Entschädigung aberkannt, wenn ihr Handeln angeblich nicht wirklich den NS-Staat in Gefahr bringen konnte. Also nur ein Attentat auf Hitler oder ähnliches wäre eine wahre Widerstandshandlung gewesen, nicht aber ein Flugblatt gegen ihn.
Dass die Rolle der IG Farben im Prozess zur Sprache kam, ist ein Verdienst von antifaschistischen Juristen wie Friedrich Karl Kaul. In dem Buch von Taler/Nelhiebel wird die Rolle der Industrie 1933–1945 – anders als in anderen gegenwärtigen Geschichtsbüchern – abgehandelt. Und auch, dass in der Neuauflage Fritz Bauer mit bislang unbekannten Aussagen zu Wort kommt, macht das Buch so wertvoll. So führte Bauer vor jungen Menschen im Februar 1964 über NS-Prozesse aus, »dass bequeme Anpassung an einen Unrechtsstaat unverantwortlich ist. Wenn der Staat kriminell ist, weil er die Menschen- und die Freiheitsrechte, die Gewissensfreiheit, das Recht auf einen eigenen Glauben, das Recht auf eigenes Leben systematisch verletzt, ist Mitmachen Unrecht. Es ist, wie unsere Prozesse demonstrieren sollen, möglicherweise Mord.« Und weiter: »Worüber die NS-Prozesse aufklären, das ist das Recht, ja die Pflicht zum Nein gegenüber unmenschlichen Anordnungen. (…) Das ist die Moral der Geschichte, das ist der Beitrag der Prozesse zum politischen Bewusstsein.« (S. 159)
Hans Frankenthal fuhr mit einer VVN-Gruppe 1987 zu einem Prozess in Siegen gegen den Verantwortlichen der Morde an Sinti und Roma in -Auschwitz, Ernst-August König. Als Zeuge trat ein Mittäter auf, den Frankenthal zum Angeklagten machen konnte. Er hatte einem Vater grob sein Kind entrissen, es an den Füßen gepackt und gegen einen Pfahl geschlagen, bis es starb. Gegen diesen Mörder und SS-Unterscharführer Heinrich Kühnemann wurde zwei Jahre ergebnislos verhandelt. König wurde verurteilt, ein halbes Jahr später begang er Suizid.
Das Fritz-Bauer-Institut urteilte über das Buch von Conrad Taler: Es ist »jedem zu empfehlen, der sich rasch über den Verlauf des Auschwitz-Prozesses, über dessen Höhepunkte und die im Gerichtssaal ausgetragenen Konflikte ein Bild machen möchte«.