Menschenrechte verteidigen
2. März 2024
Argumente und Fakten gegen falsche Behauptungen und reaktionäre Scheinlösungen zu Flucht und Migration
Die Themen Flucht und Migration sind politisch umstritten. Das hat unter anderem damit zu tun, dass Zuwanderungen in den Aufnahmeländern oft mit Umschichtungen in den sozialen Strukturen und mit kulturellen Anpassungsprozessen einhergehen. Die gesellschaftlichen Veränderungen werden auch von Verteilungskonflikten begleitet, zum Beispiel auf dem Wohnungsmarkt. Hinzu kommen mediale und parteipolitische Strategien, die reale Ängste vor Veränderungen ausnutzen und auch Ressentiments in der Bevölkerung verstärken. Nur zu gern werden Sündenböcke gesucht statt Lösungen für real-existierende Probleme. Seit Jahren wird auch in der Bundesrepublik nicht mehr nur von der extremen Rechten, sondern über ein breites Spektrum von bürgerlichen Parteien hinweg versucht, mit falschen und irreführenden Behauptungen Stimmung gegen Geflüchtete und Migrant*innen zu machen. Zurzeit erleben wir erneut, dass fast alle Parteien, auch Bündnis 90/Die Grünen, aus Angst und Feigheit vor der AfD den Kurs gegenüber Geflüchteten verschärfen und dafür auf einen Abschottungskurs setzen.
Dem sollen hier Fakten und Argumente entgegengesetzt werden, um mit dieser Handreichung Menschen eine Argumentationshilfe für eine antirassistische Auseinandersetzung an die Hand zu geben.
Ausdruck des Rechtsrucks: Abbau von Menschenrechten im Flüchtlingsschutz. Uns ist es wichtig, immer wieder zu betonen, dass es um Menschenrechte und Menschenwürde geht, wenn wir Schutz und Rechte der Geflüchteten politisch und gesellschaftlich verteidigen. Denn das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht (siehe Spalte zum »Recht auf Asyl«, Seite 18). An den Außengrenzen Europas entstanden in den letzten Jahren große Elendslager wie Moria auf der griechischen Insel Lesbos im Mittelmeer. Tausende schaffen es jedes Jahr nicht und ertrinken. Oftmals werden brutale »Pushbacks« vorgenommen. Das sind gewaltsame illegale Rückschiebungen über Grenzen zu Lande und zu Wasser. Das ist nicht zu ertragen und nicht hinnehmbar!
Wir bleiben dabei: Menschenrechte müssen verteidigt werden! Den aktuellen Kooperationen mit autoritären Regimen wie denen der Türkei, -Libyens oder Tunesiens zum Zweck der Abschottung stellen wir uns entgegen: Sie sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems und müssen beendet werden. Es muss jederzeit und uneingeschränkt menschenwürdige Versorgung und Unterbringung von Schutzsuchenden hergestellt und gewährleistet werden. Aber auch Ersteinreiseländer müssen entlastet werden. Ein offenes Europa muss legale und sichere Wege schaffen, um weitere Tote im Mittelmeer zu verhindern. Statt die EU-Grenzschutzagentur weiter aufzurüsten, muss der für die nächsten Jahre vorgesehene Milliardenetat in eine europäische Seenotrettungsmission investiert werden.
Flüchtlinge verursachen keine Krisen. Kriege, Krisen und Konflikte weltweit verursachen Flucht! Um die Verschärfung der Abschottung Europas und immer mehr Einschränkungen des Asylrechts zu begründen, werden falsche und irreführende Zahlen und Mythen verbreitet. Wer eine »Flüchtlingskrise« herbeiredet, will Menschlichkeit gegen Ausgrenzung eintauschen. Bis heute wird die Bekämpfung von Fluchtursachen im weltweiten Maßstab völlig vernachlässigt. Die häufigsten Fluchtursachen sind Angst um das eigene Leben durch Krieg, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, Hunger und Elend. Auch der weltweite Klimawandel gehört dazu und wird zu einem weiteren Anstieg der weltweiten Fluchtbewegung beitragen. Die Weltbank und andere haben berechnet, dass wegen der Erderwärmung bis zum Jahr 2050 rund 216 Millionen Menschen zur Migration gezwungen sein werden.1 Hier müssen die mitverursachenden Länder als Schutzgebende eintreten. Migration wird sich nicht aufhalten lassen. Noch so hohe Hürden werden schutzsuchende Menschen nicht abhalten zu fliehen.
Die Welt wird aktuell und absehbar mit ihren zunehmenden Krisen und Kriegen instabiler. Das Schutzbedürfnis Asylsuchender wächst entsprechend. Die Asylanträge steigen auch in Europa und speziell der BRD an. 2023 haben insgesamt 351.915 Menschen in der BRD um Asyl nachgesucht. Es ist jedoch noch weit entfernt von den 745.545 Asylanträgen 2016. Die Kriegsfluchtbewegung wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine ist in dieser Zahl nicht enthalten. Es handelt sich um 1.086.926 Menschen, die kein Asyl, sondern besondere Schutzrechte haben.
Zuwanderung bringt uns voran! Sie nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg? Nein, schon lange ist klar, dass Erwerbsfähige fehlen. Vor fast 20 Jahren zeigte eine Studie, dass die Zahl der Erwerbsfähigen ab 2020 sinkt und diese Lücke anwächst.2 Denn die Bevölkerung in Deutschland bleibt nur durch Zuwanderung stabil. Alles in allem stieg die Bevölkerungszahl in der BRD 2023 – auch durch die geflüchteten Menschen aus der Ukraine – auf über 84 Millionen. Aufgrund der Zuwanderung konnte der demografische Schrumpfungsprozess in Deutschland, der tatsächlich noch 2020 zu verzeichnen war, aufgehalten werden.3 Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerungszahl in Deutschland deutlich stärker sinken: Allein der Überschuss an Sterbefällen im Vergleich zu Geburten stieg 2021 auf 228.000. Gleichzeitig findet eine Überalterung statt. Wir sind also mitten in einem demografischen Wandel in Deutschland, der sich auf die Erwerbsbevölkerung auswirkt. Die Wirtschaft braucht deshalb ca. 400.000 Zugewanderte im Jahr.
Logisch ist also schwer nachzuvollziehen, warum vorwiegend jüngere Menschen, die hierherkommen, weil sie in Not sind, abgewiesen werden. Sie müssen nicht extra angeworben werden, auch wenn sie (noch) keine Fachkräfte sind. Aktuelle Ausschluss- oder Zwangsregeln wie Arbeitsverbot für Asylbewerber*innen und – alternativ – Arbeitszwang als Gegenleistung für Hilfeempfang sind nicht mehr als fruchtlose Scheinlösungen, um der AfD Wähler*innen abzujagen. Eine Integration in den normalen Arbeitsmarkt würde dagegen wirklichen Sinn ergeben.
Stattdessen wird häufig mit dem Begriff der »illegalen Migration« jongliert. Dies ist ein abwertender Begriff für die sogenannte irreguläre Zuwanderung. Der Begriff ist mittlerweile ins Vokabular von Politiker*innen aus verschiedenen Parteien aufgenommen worden, wenn es um die Verschärfung des Asyl- und Abschieberechts geht. Dieser Begriff soll die Geflüchteten als Personen ins Unrecht setzen, in den Dunstkreis einer kriminellen Tat oder einer Gefahr bringen. Die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet aber aus guten Gründen, dass Menschen wegen eines nicht befugten Grenzübertritts bestraft werden4, und sobald ein Antrag auf Asyl gestellt wird, halten Geflüchtete sich völlig gesetzeskonform auf. Ihre Schutzansprüche bestehen anschließend häufig auch zu Recht: Etwa 70 Prozent der Asylanträge werden anerkannt!
Die Rede von der »illegalen Migration« setzt dagegen nur den Gedanken an Abschottung und Ausschluss in den Mittelpunkt. Das legitimiert nicht nur das Elend an den Außengrenzen der EU, sondern wirkt auch verrohend auf den Diskurs im Innern der Gesellschaft.5 So forderte Jens Spahn provokativ den Einsatz »physischer Gewalt« an den europäischen Außengrenzen. Als ob das nicht bereits gängige illegale Praxis wäre. Nicht nur Pro Asyl ist entsetzt, denn es drängt sich der Eindruck auf, dass Spahn völkerrechtswidrige und brutale Pushbacks legitimieren und zu geltendem Recht machen will.6 Er stellt sich als Politiker der gesellschaftlichen Mitte in eine Reihe mit Beatrix von Storch, die schon vor Jahren an den Grenzen »von der Schusswaffe Gebrauch« machen wollte, und Alexander Gauland, der empfahl, auch »grausame Bilder« auszuhalten, beide AfD. Auch der ehemalige CSU-Chef Horst Seehofer meinte 2011 volksverhetzend punkten zu müssen: »Wir werden uns gegen Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme wehren – bis zur letzten Patrone.« All dies stellt ein internationales Menschenrecht zur Disposition. Die Frage ist: Wollen wir als Gesellschaft das dulden?
Angespannte Lage in den Kommunen: »Wir schaffen das nicht«? Die Kommunen sind für die Unterbringung der Geflüchteten verantwortlich. Tatsächlich stehen sie angesichts der Zuwanderungszahlen zum Teil vor erheblichen Herausforderungen. Ernsthafte Probleme – etwa auf dem Wohnungsmarkt und bei Schul- und Kitaplätzen – betreffen viele Menschen in unserer Gesellschaft. Sie sind allerdings nicht erst mit den aktuell ankommenden Schutzsuchenden entstanden und werden auch nicht durch deren Abschreckung und Abwehr gelöst. Vielfach wird behauptet, dass die Kommunen vor allem mit der Unterbringung von Geflüchteten »am Limit«, in einer »Notlage« und »überfordert« seien. Doch so einfach ist es nicht. Eine Forschungsgruppe hat in einer bundesweiten Umfrage Ende 2023 herausgefunden, dass knapp 60 Prozent der Kommunen ihre Situation als »herausfordernd, aber (noch) machbar« beschrieben.7 Sie sehen sich nicht in einer Notlage. Problematisch sind allerdings neben dem knappen Wohnungsangebot Engpässe bei Kindertagesstätten und in der Verwaltung und zum Teil bei Schulen, Sprachkursen und Beratungsangeboten, gerade in den kleineren Gemeinden. Die meisten Kommunen wollen die Lage durchaus bewältigen. Sie müssen für die Aufnahme und Integration schutzsuchender Menschen allerdings finanziell nachhaltig und ausreichend gefördert werden.
Helfen mehr Abschiebungen den Kommunen? Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) meint, es müsste endlich »im großen Stil« abgeschoben werden. Unter der SPD-FDP-Grünen-Regierung seien die Abschiebezahlen gestiegen, rühmt die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. Erleichterte Abschiebungen verteidigt auch der grüne Vizekanzler Robert Habeck. Die FDP will zur Sicherstellung von Abschiebungen den sogenannten Ausreisegewahrsam auf einen Monat verlängern und zu jeder Uhrzeit unangekündigt in Wohnungen eindringen. CDU/CSU sowie AfD machen häufig noch viel schärfere Vorschläge. Es handelt sich alles in allem um eine Diskursverschiebung nach rechts außen, in der Hoffnung, so der AfD das Wasser abgraben zu können. Fakt ist: Mehr Abschiebungen helfen den Kommunen nicht. Mehr Abschiebungen schaffen keine Kita- oder Schulplätze, digitalisieren keine Behörden und bauen keine bezahlbaren Wohnungen.
Pull- oder Push-Faktoren? Immer wieder, wenn die Zahlen von Geflüchteten steigen, wird von sogenannten Pull-Faktoren gesprochen, also Anreizen, die sie in ein Land ziehen. Dahinter steht die Annahme, Geflüchtete kämen wegen der Sozialleistungen hierher. Dabei halten Migrationsexpert*innen diese Theorie der wirtschaftlichen Vorteile längst für überholt. Faktoren wie familiäre Kontakte oder soziale Netzwerke im Zielland sind viel wichtiger.8 Auch, ob es einen funktionierenden Arbeitsmarkt gibt, ist von Bedeutung. Im Zusammenhang mit der Seenotrettung im Mittelmeer gibt es auch immer wieder den Vorwurf, dass durch die Rettung an sich Anreize zur Flucht geschaffen würden. Laut Migrationsexpert*innen können Flüchtlinge aber kaum planen, wie und wann eine tatsächliche Überfahrt über das Mittelmeer stattfinden kann. Eine entsprechende Anpassung der Abreise an Rettungsmissionen ist nicht möglich.9 Natürlich können im Zeitalter des Internets Informationen über Fluchtwege, Fluchtbedingungen und Zielländer sowohl motivierende wie auch abschreckende Wirkung haben. Entscheidende Gründe für die Flucht sind aber Push-Faktoren wie Krieg, Katastrophen oder Notlagen. Außerdem ist die Situation von Flucht in der Regel gekennzeichnet von sehr kurzfristigen Entscheidungen und auch von sehr eingeschränkten Möglichkeiten, überhaupt irgendwohin zu kommen.
Fake-Behauptungen und Diskriminierung. »Sozialtourismus« ist aktuell ein besonders abwertender und diskriminierender Begriff aus den Reihen der CDU/CSU und der AfD gegen Schutzsuchende. Er stammt aus dem braunen Wörterbuch der NPD und wurde schon 2013 als »Unwort des Jahres« herausgestellt. 2022 wärmte Merz das Unwort medial gegen die ukrainischen Kriegsflüchtlinge wieder auf. Sie würden zwischen der -Ukraine und Deutschland mit Flix-Bussen hin und her pendeln, nur um Sozialleistungen zu kassieren. Recherchen zeigten: Verbreitet wurde das Gerücht von prorussischen und extrem rechten Kanälen.10 Nachdem er die Behauptung durch nichts belegen konnte, musste Merz zurückrudern. Da hatte er als deutscher Oppositionsführer den Hetzdiskurs allerdings schon mit Fake News befeuert.
Auch die von der CDU/FDP/AfD an die Wand gemalte »Einwanderung ins Sozialsystem« ist ein Kampfbegriff11 und hält einer Untersuchung zur Erwerbstätigkeit Geflüchteter schon wenige Jahre nach ihrer Ankunft kaum stand. Es ist inzwischen nachprüfbar, was aus den Schutzsuchenden von 2015 und 2016 geworden ist. Ha ben sie auf der faulen Haut gelegen und die Hand aufgehalten? Mitnichten: Ein Großteil der 2015 und 2016 nach Deutschland Geflüchteten ist heute erwerbstätig und über 70 Prozent arbeiten auf Fachkräfteniveau.12 Investitionen in die (schnellere und bessere) Integration von Flüchtlingen, namentlich Sprachkurse und Berufsbildung, lohnen sich sowohl gesamtwirtschaftlich als auch für den Staatshaushalt, so bilanziert es die anerkannte Arbeitsmarktforschung.13 Ebenso wichtig sind ein verkürzter Aufenthalt in der Erstunterbringung, die Ermöglichung auch privater Unterkunft bei Verwandten oder in der Community und schneller Zugang zum Arbeitsmarkt.
Belasten oder entlasten Zugewanderte das Sozialsystem? Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung in der Bundesrepublik seit Jahren schrumpfen, was vor allem die Renten- und Krankenversicherung durch fortschreitende Überalterung noch mehr belasten würde. Die gesetzlichen Versicherungen profitieren von der wachsenden Zahl sozialversicherungspflichtig beschäftigter Migrant*innen. Zugleich sind tatsächlich überdurchschnittlich viele erwerbsfähige Zugewanderte auf Hilfe zum Leben angewiesen. Im Vergleich zu den Kosten der Renten- und Krankenversicherung macht die Grundsicherung jedoch einen deutlich kleineren Posten aus. Berücksichtige man die gesamten Leistungen und Bezüge über die Lebenszeit von Zuwanderer*innen, werde das Bild deutlich positiver, als es ihr relativ hoher Anteil an Arbeitslosen und Grundsicherungsempfängern vermuten lasse, errechnete ein Arbeitsmarktforscher.14
Müssen Asylsuchende zur gemeinnützigen Arbeit gezwungen werden, um die Sozialkassen zu entlasten? Der freie Zugang zum Arbeitsmarkt wurde ja jahrelang von Kenner*innen des Feldes gefordert. Das wollte der Staat ausdrücklich nicht, gerade um »voreilige« Integration zu verhindern. Jetzt plötzlich wird der Ruf nach Arbeitszwang als Gegenleistung für Grundversorgung von Asylbewerbern laut, obwohl sie noch immer mit einem Arbeitsverbot belegt sind. In der Forderung nach der Ausweitung der Pflicht schwingt der Vorwurf mit, Asylbewerber*innen könnten oder wollten nicht arbeiten. Sie wollen das in der Regel aber viel lieber als sinn- und tatenlos in der Unterbringungseinrichtung herumzusitzen. Schon die AfD forderte zuvor, die Empfänger von Grundsicherung zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten. Ähnliches forderte später die CDU für Asylsuchende, und schließlich wurde es im Herbst in die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder eingebracht. Doch nicht jede einfache Idee ist eine gute Idee. Der massenhafte Aufwand für Arbeitsplatzsuche, Vermittlung und Anleitung in der gemeinnützigen Arbeit müsste auf lokaler Ebene durch eine sehr hohe Zahl an zusätzlichen Mitarbeiter*innen bewältigt werden. Es wäre besser, endlich die zahlreichen Hürden für Asylbewerber*innen abzubauen. Es dauert Jahre, bis sie in Arbeit kommen. Sprachkurse oder Ausbildungen sind am Ende viel sinnvoller. Ebenso die schnellere und bessere Anerkennung von ausländischen Schul- und Universitätsabschlüssen, der Abbau von langwierigen bürokratischen Verfahren oder der Abbau von Wohnsitzauflagen, um dahin gehen zu können, wo es tatsächlich Arbeit gibt.
Steile Thesen: Mit Sachleistungen gegen Geldtransfer in die Herkunftsländer und gegen Schleusungskriminalität? Die Vorstellung ist simpel. Wenn Sachleistungen an die Stelle von Bargeldauszahlungen gesetzt werden, sinke für Geflüchtete der Anreiz, nach Deutschland zu kommen. Sie schickten ihr Geld nicht in die Heimat und zahlten damit auch nicht mehr ihre Schleuser. Drehe man den Bargeldhahn zu, kämen weniger unerwünschte Asylsuchende, und Schleuserkriminalität werde so bekämpft. Wenn Menschen fliehen, entscheiden sie das nicht aufgrund der Sozialleistungen in der Bundesrepublik. Dies zu behaupten, hat keinerlei wissenschaftliche Grundlagen und dient nur der Stigmatisierung der Geflüchteten. Die Erfahrungen in der BRD zeigen, dass Aufwand und Kosten für die Verwaltung der Sachleistungen höher werden, während der erhoffte Effekt gleich null ist. Wenn Menschen dringend Geld brauchen, wird die Sachleistung zur Not verkauft. Menschlicher Umgang heißt, geflüchteten Menschen genau wie allen anderen das Recht zu geben, ihre Finanzmittel selber zu verwalten und sie im Sinne von Integration zu unterstützen und nicht zu drangsalieren und zu bevormunden. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Asylbewerberleistungsgesetz die ohnehin äußerst knappen Mittel des Bürgergeldes noch um etwa 100 Euro pro Einzelperson unterschreitet und damit nicht einmal den gesetzlich definierten Mindestlebensunterhalt abdeckt. Es ist auch völlig lebensfremd zu glauben, dass von 182 Euro »Taschengeld« im Monat noch etwas Wesentliches abzuzwacken wäre.
Geflüchtete verursachen zu hohe Medizinkosten? Zu den Merz’schen und AfD-gefärbten Lügen zur medizinischen Versorgung der Geflüchteten auf Kosten der erwerbstätigen Bevölkerung sei erwähnt, dass entsprechend der reduzierten Grundsicherung gemäß Asylbewerber-Leistungsgesetz sowieso nur akute Krankheiten und Schmerzen mit den dafür notwendigen Heilmitteln behandelt werden dürfen. Darüber hinaus können im Einzelfall Leistungen gewährt werden, die zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind. Schwangere und Wöchnerinnen haben einen umfassenden Anspruch auf ärztliche und pflegerische Hilfe; dazu zählen auch Betreuung, Hilfe durch eine Hebamme, Arznei-, Verbands- und Heilmittel. Auch stehen Asylbewerbern medizinische Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen zu. Hingegen wird Zahnersatz nur gewährt, wenn er aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist. Dies ändert sich leider erst nach 18 Monaten Aufenthalt.
Nehmen »uns« Geflüchtete und Migrant*innen die Wohnungen weg? Die AfD behauptete im Frühjahr 2023 in einer von ihr beantragten Bundestagsdebatte zur »Verdrängung Einheimischer auf dem Wohnungsmarkt«, die aktuelle Zuwanderungspolitik führe zur »Zwangsumsiedlung« von Deutschen zugunsten von Migrant*innen und Flüchtlingen. Das wurde zwar umgehend als rassistische Stimmungsmache zurückgewiesen, doch die Erzählung hat sich festgesetzt. Im Herbst sprang auch der ex-grüne Oberbürgermeister von Tübingen Boris Palmer auf diesen Zug auf: Krise und Krieg verschärften die Wohnungsnot bei den Einheimischen … Die wahren Ursachen liegen aber woanders, und das auch nicht erst seit gestern. In den 77 deutschen Großstädten fehlen fast zwei Millionen günstige Wohnungen. Insgesamt fehlen in Deutschland nach wie vor massiv Sozialwohnungen. Studien gingen 2023 von 700.000 bis zu mehreren Millionen fehlenden Sozialwohnungen aus. Für das alles soll die »unkontrollierte Einwanderungspolitik« herhalten? Bezahlbarer Wohnraum ist seit nahezu zwei Jahrzehnten ein knappes Gut, und der Trend geht immer weiter. Auf dem freien Wohnungsmarkt haben deutsche und migrantische Geringverdiener*innen so gut wie keine Chance. Die Gründe dafür sind vielfältig und eben nicht eindimensional: das Hinterherhinken des Wohnungsbaus, Rückgang des Sozialwohnungsbestands, Binnenwanderung zugunsten von Ballungsgebieten, der Trend zu Singlehaushalten, Zweckentfremdung von Wohnraum, kompliziertes Baurecht usw. Was hilft wirklich? Den sozialen Wohnungsbau wieder ankurbeln! Das Baurecht entrümpeln usw.
Scheinlösung: »Am besten, sie kommen gar nicht erst hierher«. Aktuell gibt es einen Rechtsruck in ganz Europa. Dazu gehört die Forderung, dass Schutzsuchende gar nicht erst über die europäischen Außengrenzen kommen sollen. Asylantragstellende sollen im Schnellverfahren und unter Haftbedingungen an den europäischen Außengrenzen oder sogar in Ruanda abgefertigt werden. Bis zur Entscheidung werden Männer, Frauen und Kinder wochen- und monatelang in Zukunft unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten. Bei Ablehnung soll ins Herkunftsland oder in »sichere« Staaten, mit denen die Asylsuchenden irgendwie in Kontakt standen, abgeschoben werden dürfen. Es gibt keine Rechtsmittel, um nicht in dieses Schnellverfahren zu kommen. Asylsuchende werden stärker als je zuvor entrechtet. Viele haben dann keinen Zugang mehr zu einem echten Asylverfahren.
Dazu soll jetzt das Abschottungskonzept der »sicheren Drittstaaten« auf europäischer Ebene so ausgeweitet werden, dass weitere Nicht-EU-Länder als »sichere« Staaten deklariert werden. Sie müssen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht anerkannt haben. Sie müssen auch nur in Teilen des Landes »sicher« sein. Es ist zu erwarten, dass ein regelrechtes System von Elendslagern entsteht. Dem hat Deutschland zugestimmt. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bezeichnete diesen Ausverkauf der Menschenrechte als »historischen Erfolg«. »Historisch« ist allerdings nur die Preisgabe des Asylrechts durch die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Das individuelle Recht auf Asyl in der EU ist de facto tot.
Menschlichkeit und Solidarität statt Hass und Hetze. In Zeiten, in denen Kriege und Krisen global zunehmen, wird es Zeit, sich auf die Menschlichkeit zu besinnen, anstatt gegen Minderheiten zu hetzen. Europa muss sich fit machen für eine lebenswerte Zukunft für alle.
1 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1263402/umfrage/anzahl-moeglicher-klimafluechtlinge-weltweit-bis-2050-nach-region/
2 Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) 2005 in einer Studie, laut Ulrike Herrmann in: https://taz.de/Erwerbstaetige-in-Deutschland/!
3 https://www.rnd.de/politik/einwohnerzahl-deutschland-waechst-wieder-dank-der-zuwanderung-KXBAFU4IFBEXND77ZCJTR6SUXQ.html
4 Bernd Kasparek vom Institut für Empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität Berlin, zit in: https://www.tagesspiegel.de/politik/was-ist-eigentlich-illegale-migration-die-bedeutung-der-wichtigsten-begriffe-in-der-migrationsdebatte-10536109.html
5 https://www.sueddeutsche.de/politik/illegale-migration-abschottung-hinter-mauern-volker-m-heins-frank-wolff-rezension-1.6048071
6 Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl: https://www.fr.de/politik/scholz-fluechtlinge-spahn-migration-cdu-gewalt-eu-grenze-spd-abschiebungen-kritik-pro-asyl-merz-zr-92637459.html
7 https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Universitaet_Hildesheim_Mediendienst_Integration_Umfrage_Fluechtlingsunterbringung_in_den_Kommunen.pdf
8 https://www.tagesschau.de/faktenfinder/kontext/migration-push-pull-faktoren-101.html
9 https://www.tagesschau.de/faktenfinder/ngo-fluechtlinge-mittelmeer-109.html
10 https://www.tagesschau.de/faktenfinder/merz-sozialtourismus-101.html
11 Prof. Jürgen Zimmerer, Historiker: https://twitter.com/JuergenZimmerer/status/1660756970607984643
12 https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/fluechtlinge-deutschland-arbeit-oder-sozialhilfe-100.html
13 https://www.nzz.ch/wirtschaft/pluendern-zuwanderer-das-deutsche-sozialsystem-oder-entlasten-sie-es-ld.1725020
14 https://www.nzz.ch/wirtschaft/pluendern-zuwanderer-das-deutsche-sozialsystem-oder-entlasten-sie-es-ld.1725020
Recht auf Asyl
Das Recht auf Asyl wurde 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen. Millionen von Menschen hätten gerettet werden können, wenn sie auf der Flucht vor dem Krieg in anderen Ländern Asyl bekommen hätten. In der Bundesrepublik wurde als Lehre aus dem Nationalsozialismus im Grundgesetz vom 23. Mai 1949 das Recht auf Asyl als ein Verfassungsrecht verankert. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verpflichteten sich die Vertragsstaaten international, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, zur Gewährung von Asyl und zur Einhaltung eines sogenannten Mindestschutzstandards.
Anfang der 1990er-Jahre stieg die Zahl der Asylbewerber*innen an. Zugleich gab es im Land einen massiven Anstieg rassistischer Hetze sowie von Anschlägen, bei denen regelmäßig Menschen mit Migrationsgeschichte gewalttätig angegriffen wurden und auch starben. Die Politiker von SPD, CDU, FDP und Grünen gaben 1993 dieser Stimmung nach und schränkten das Grundrecht auf Asyl in der BRD so ein, dass es praktisch bedeutungslos wurde. Das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR und Flüchtlingsorganisationen kritisieren seitdem, dass Menschen, die über andere, vor allem europäische Länder (»sichere Drittstaaten«) in die BRD kommen, hier praktisch nach dem Grundgesetz keine Aussicht mehr auf Asyl haben. Da die BRD von »sicheren« Staaten umgeben ist, wurde die legale Einreise praktisch unmöglich. Deshalb kommen viele auf nicht erlaubten Wegen hierher. Menschen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention als Geflüchtete angesehen werden sowie Kriegsflüchtlinge genießen in der BRD andere Schutzrechte, erhalten aber kein Asyl.
Fluchtbewegungen
Seit dem Jahr 2012 bis Ende 2022 hat sich die Zahl der Menschen, die aus ihren Heimatländern flüchten mussten, weltweit von 51 Millionen auf 108 Millionen mehr als verdoppelt. Der größte Teil von ihnen flüchtete allerdings nicht ins »reiche« Europa. Die allermeisten Schutzsuchenden blieben in ihren Heimatländern, mehr als 60 Prozent der Menschen auf der Flucht sind Binnenvertriebene. Die meisten, die ihre Herkunftsländer verlassen, werden von in der Nähe liegenden Ländern in Afrika oder Asien aufgenommen, die selbst mit Armut, Konflikten und anderen politischen und sozialen Problemen zu kämpfen haben. Geflüchtete in der Bundesrepublik kommen vor allem aus drei Staaten: Syrien, der Ukraine und Afghanistan. Die meisten sind also definitiv keine »Wirtschaftsflüchtlinge«, sondern sie fliehen vor Krieg, Bürgerkrieg und Verfolgung.
Die Autor:innen sind Mitglieder des AK Neofaschismus der Hamburger VVN-BdA und engagieren sich zudem im Hamburger Bündnis gegen Rechts
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