Doppelt berührend
4. Juli 2024
Ein Buch zu den unter den Nazis als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgten
»Freiheit besteht im Fehlen vom Zwang, Böses zu tun«, so hielt Leo Tolstoi es 1851 in seinem Tagebuch lapidar fest. Das Wort Böses enthält eine normativ moralische Wertung, die der russische Schriftsteller in dem Sinne vermutlich nicht beabsichtigte. Ihm ging es viel mehr um eine Beschreibung einer Gesellschaft, in der gesetzwidriges und unangepasstes Verhalten, Delinquenz und Devianz sich als Akte der Notwehr äußern.
Denjenigen Menschen, die im Ringen um ein erträgliches, den Lebensunterhalt sicherndes Auskommen im Nationalsozialismus straffällig wurden und in der Folge in Konzentrationslager verschleppt und ermordet wurden, widmet Frank Nonnenmacher den vorliegenden Band. Er versammelt, neben Beiträgen zur historischen Kontextualisierung, zwanzig Schicksale von Menschen, die im deutschen Faschismus als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« verfolgt und mehrheitlich ermordet wurden. Besonders ist dabei, dass die Nachkommen der Verfolgten die Geschichten ihrer Familienmitglieder selbst und in eigenen Worten schildern. So wird den Leser_innen nicht nur begreifbar, wie schwer und kompliziert sich die Recherche zu den verfolgten Familienangehörigen häufig gestaltete, sondern auch, wie wirksam und mächtig die Mechanismen der Stigmatisierung bis heute sind. Die Lektüre gerät daher doppelt berührend: Einmal durch die Schilderung der grausamen Schicksale und dann durch die Feststellung, dass die fehlende Anerkennung der Opfer die Erfahrung der Nachfahren bis heute fragmentiert und teils sogar in offene Brüche in den heutigen Familien führt.
Erst am 13. Februar 2020 beschloss der Deutsche Bundestag die Anerkennung der von den Nazis als »Asoziale und Berufsverbrecher Verfolgten« auf Initiative Frank Nonnenmachers, dessen Onkel Ernst selbst Betroffener des NS-Unrechtsstaats war. Die vorgestellten Schicksale zeigen, wie tief die Scham und Angst vor Diskriminierung bei den Betroffenen saß, wie sie sie zum Schweigen brachte und damit um zumindest finanzielle Entschädigung für das erlittene Unrecht. Der Beschluss des Antrages ist damit zwar als Erfolg und Wendepunkt in der Erinnerungskultur zu werten, aber gleichzeitig auch als Beleg dafür, wie weit sozialchauvinistisches Gedankengut in die heutige Gesellschaft hineinreicht. Der zynische Einwand, dass die Bundesrepublik durch das 75 Jahre Zuwarten sich die Entschädigungsleistungen gespart hat, weil schlichtweg kaum noch jemand mit Anspruch auf Entschädigung am Leben ist, scheint mindestens gerechtfertigt.
Was für antifaschistische Menschen selbstverständlich sein sollte, die im Antrag festgehaltene Feststellung »niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet« nämlich, war es bis 75 Jahre nach der Niederlage des Nationalsozialismus nicht – und in Teilen der Gesellschaft ist diese Erkenntnis bis heute nicht verankert. Das äußert sich ganz alltäglich in der häufigen Verwendung des Wortes »asozial« als Schimpfwort und erfährt seine Zuspitzung in der Forderung der AfD, den »Asozialen« und »Berufsverbrechern« »nicht eine Art Generalamnestie« zu gewähren.
Kein Mensch wurde zu Recht ins KZ verschleppt, denn sie alle wurden ohne richterliche Anordnung, ohne die Möglichkeit zur Anfechtung, ohne das Vorliegen konkreter Straftaten, ohne zeitliche Befristung willkürlich ihrer fundamentalen Menschenrechte beraubt. Das System hinter diesem von Nonnenmacher zu Recht als »typisch nationalsozialistisch« bezeichneten Unrecht wird von Julia Hörath in einem dem biografischen Teil vorangestellten Beitrag eindrucksvoll und akribisch erläutert. Sie stellt fest, »dass es sich gar nicht um ein spezifisch nationalsozialistisches Denken handelte«, sondern die Wurzeln der nationalsozialistischen Verfolgung von Menschen als »Asoziale« oder »Berufsverbrecher« zurückreichen bis in die Zeit der Weimarer Republik und des Kaiserreiches. Das ist die Grundlage der Erkenntnis, dass die Verachtung von sich delinquent oder deviant verhaltenden Menschen im Nazistaat radikaler wurde und im Bestreben des Erschaffens eines »gesunden Volkskörpers« zur Vernichtungspolitik führte. Gleichzeitig bietet sie Erklärungsansätze für die Scham und Angst der Betroffenen vor erneuter Diskriminierung. Die Alliierten hatten zwar die Deutschen besiegt, aber eben nicht die ideologischen Komponenten, mit denen ihre Verfolgung begründet worden war. Eben weil diese ideologischen Komponenten nicht spezifisch faschistisch waren, sondern Teil der staatlichen »autoritär-repressiven Wohlfahrts- und Strafrechtspflege« und dem modernen Standard entsprachen, hielten sie sich auch im post nationalsozialistischen Deutschland – und halten sich bis heute.
Frank Nonnenmacher und seinen Mitstreitenden kommt das Verdienst zu, eine wichtige Leerstelle in der Aufarbeitung des deutschen Faschismus einer breiten Öffentlichkeit aufgezeigt und zugänglich gemacht zu haben. Es gelingt ihnen, indem sie die historische ideologische Kontinuität benennen, ihr Thema in der Gegenwart verankern und der allgegenwärtigen Sanktionierung von Armut entgegentreten.