VVN in Nöten

geschrieben von Bernd Kant

4. Juli 2024

Beitrag der Stuttgarter Nachrichten von 1949 zeigt Denken in neuer BRD auf

Mit dieser reißerischen Überschrift machten die Stuttgarter Nachrichten vor 75 Jahren einen Kommentar auf, der – just am Tag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, am 23. Mai 1949 – die Überflüssigkeit einer antifaschistischen Vereinigung belegen sollte. In unserem Archiv findet sich dieser Zeitungsausschnitt, der hier im Wortlaut wiedergegeben wird. Zeigt er doch eindrucksvoll das Denken und die politischen Themen in der frühen BRD (siehe Spalte).

Man könnte es sich einfach machen, und darauf verweisen, dass die Organisation – lebendig und aktiv – auch 75 Jahre nach diesem Kommentar in der politischen Landschaft präsent ist. Aber der Artikel zeigt, wie die etablierten Kräfte der neu gegründeten BRD eine Organisation der Frauen und Männer aus Widerstand und Verfolgung lieber heute als morgen eliminiert hätten. Immerhin waren die Stuttgarter Nachrichten eine durchaus angesehene Tageszeitung, die in damaliger Sicht eine überregionale Bedeutung hatte.

Der Kommentator spricht von »Dauerkrise« und »inneren Schwierigkeiten«, die bekannt und offenkundig seien. Er spricht damit die intensiven Bestrebungen konservativer Kreise an, die noch in der VVN organisierten bürgerlichen Kräfte aus der Organisation herauszubrechen. Wie intensiv die Institutionen des neuen westdeutschen Separatstaates daran beteiligt waren, haben wir an anderer Stelle bereits ausgeführt. Obwohl die Stuttgarter Nachrichten keine Zeitung mit SPD-Tendenz waren, wird die Entscheidung der Schumacher-SPD zum »Unvereinbarkeitsbeschluss«, die in der Partei selber nur schwer umsetzbar war, lobend hervorgehoben.

Bezeichnend ist, dass der Kommentator zu den eigentlichen Inhalten der VVN-Arbeit nicht wirklich Stellung bezieht, sondern meint, betonen zu können, dass es für die genannten Themen keiner Organisation wie der VVN bedürfe, weil diese Fragen auf anderen Entscheidungsebenen behandelt werden müssten.

In dem Text der Stuttgarter Nachrichten vom 23. Mai 1949 heißt es:»Die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) befindet sich allenthalben in einem Zustand der Dauerkrise. Das ist wohl ein Zeichen dafür, dass die Frage ihrer Existenzberechtigung dringend der Nachprüfung bedarf. Die SPD hat sich von der VVN distanziert. Das ›neue Programm‹ der VVN, der Kampf gegen alle separatistischen und antidemokratischen Erscheinungen, ist eine Aufgabe, die im Rahmen der politischen Kräfte gelöst werden muss. Auch die ›Wiedergutmachung‹ bedarf keiner besonderen Organisation. Die inneren Schwierigkeiten der VVN, allzu bekannt und offenkundig, lassen die Frage berechtigt erscheinen, ob die Zeit nicht über den anfänglich naheliegenden Gedanken einer besonderen Organisation hinweg geschritten ist. Eine Frage, die die beteiligten Kreise sich ernstlich vorlegen sollten!«

In dem Text der Stuttgarter Nachrichten vom 23. Mai 1949 heißt es:
»Die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) befindet sich allenthalben in einem Zustand der Dauerkrise. Das ist wohl ein Zeichen dafür, dass die Frage ihrer Existenzberechtigung dringend der Nachprüfung bedarf. Die SPD hat sich von der VVN distanziert. Das ›neue Programm‹ der VVN, der Kampf gegen alle separatistischen und antidemokratischen Erscheinungen, ist eine Aufgabe, die im Rahmen der politischen Kräfte gelöst werden muss. Auch die ›Wiedergutmachung‹ bedarf keiner besonderen Organisation. Die inneren Schwierigkeiten der VVN, allzu bekannt und offenkundig, lassen die Frage berechtigt erscheinen, ob die Zeit nicht über den anfänglich naheliegenden Gedanken einer besonderen Organisation hinweg geschritten ist. Eine Frage, die die beteiligten Kreise sich ernstlich vorlegen sollten!«

So kritisiert er das VVN-Programm, sich gegen »alle separatistischen und antidemokratischen Erscheinungen« einzusetzen. Die Menschen in der damaligen Zeit verstanden darunter durchaus korrekt, dass es der VVN um die deutsche Einheit, und damit gegen einen westdeutschen Separatstaat, sowie um die Verteidigung der demokratischen Errungenschaften des antifaschistischen Neubeginns, die nach dem Prinzip »Bundesrecht bricht Landesrecht« gefährdet waren, ging. Interessanterweise behauptet nun der Kommentator, dass die VVN, deren Mitglieder sich in den ersten Monaten und Jahren aktiv beim antifaschistisch-demokratischen Neubeginn in allen vier Besatzungszonen engagiert hatten, keinerlei Rechte habe, dazu Stellung zu nehmen. Das sei Aufgabe der »politischen Kräfte«, mit denen die politischen Parteien und die parlamentarischen Gremien gemeint waren. Außerparlamentarisches oder zivilgesellschaftliches Engagement, was aus heutiger Sicht ein wichtiger Beitrag für eine lebendige Demokratie darstellt, sollte es nicht geben. Schon damals verstand sich die VVN als Teil der gesellschaftlichen Gegenkräfte nicht allein gegen die Separatstaatsgründung, sondern auch gegen die Remilitarisierung und Restaurationspolitik mit Renazifizierung und Wiederherstellung der alten ökonomischen Machtverhältnisse. Gemeinsam ging man auf die Straße und engagierte sich in Bewegungen für Frieden und gegen Militarisierung.

Absurd wird der Kommentar, wenn der Verfasser glaubt, der VVN ihre Funktion in der »Wiedergutmachung« absprechen zu können. Er behauptet, dass es dazu »keiner besonderen Organisation« bedarf. Damit ignoriert er nicht nur den oftmals skandalösen Umgang von Behörden mit den berechtigten Anliegen der Verfolgten und ihren Familienangehörigen, für die sich die VVN bis hinein in die 1960er-Jahre in der BRD einsetzen musste, sondern suggeriert, diese Aufgabe werde sich sowieso in absehbarer Zeit erledigt haben. Damit zeigte der Kommentator deutlich, wie wenig er die Wirklichkeit der ehemaligen NS-Verfolgten verstanden hatte.

Die Behauptung, die VVN habe sich überlebt, war exemplarisch für die Denkhaltung in der Nachkriegsgesellschaft. Dazu gehörte auch eine Ignoranz gegenüber den wichtigen Aufgaben der VVN, die Bewahrung der Erinnerung an die faschistischen Verbrechen und die Opfer sowie die gesellschaftliche Mahnung, so etwas nie wieder zuzulassen. Diese Botschaft widersprach der Denkhaltung der Eliten der neugegründeten BRD.

Ob der damalige Kommentator alt genug geworden ist zu erleben, wie die VVN ihre zahlreichen Jubiläumsfeiern durchführen konnte und heute weiterhin lebendig präsent ist?

In loser Folge stellen wir hier Dokumente aus den Archiven der VVN-BdA vor beziehungsweise beleuchten deren Arbeit.