Wohin jetzt?
4. Juli 2024
Vorabdruck des Kapitels »Sieben Frauen« aus »Esthers Spuren«
Das Paket schnürt Esther in die Schulter, sie ist müde. In den letzten Nächten hat sie kaum geschlafen. Der Fliegeralarm, ausgelöst durch die Bomber der Alliierten, hat ihr keine Ruhe gelassen. Weil die Sirenen unerträglich laut sind. Weil sie ankündigen, dass die Front näher rückt. Weil das alles bedeutet, dass die Deutschen den Krieg verlieren. Esther kann ihre Freude darüber kaum verbergen.
Sie setzt einen Fuß vor den anderen, vor und hinter ihr läuft die Kolonne, an der Seite die SS. Anfangs sind sie noch in Reihen gegangen, jetzt drängt sich alles. Auf mehrere hundert Meter erkennt sie die Kolonnen aus Gefangenen in gestreifter Kleidung. Wie viele Menschen in Ravensbrück inhaftiert waren, realisiert sie erst jetzt. Ein Gefühl der Ohnmacht durchdringt sie, steigt von ihren Füßen bis zu ihrem Kopf auf.
Von Osten naht die Rote Armee, von Westen die U. S. Army. Panik bricht unter den SS-Wachmannschaften aus. Sie vernichten die Beweise ihrer Taten und folgen Himmlers Befehl, die Lager zu »evakuieren«. Ein Euphemismus, der sich nach Rettung anhört, in der Realität aber den Tod für abertausende Menschen in den letzten Kriegstagen bedeutet. Das geplante Massenmorden des nationalsozialistischen Deutschlands ist zu diesem Zeitpunkt bereits vorbei. Doch wer hinfällt, wer nicht mehr laufen kann, wird erschossen. Die Wachen haben die Art des Tötens an die Begebenheiten angepasst.
Die Ravensbrücker SS-Wachmannschaft peilt das Außenlager Malchow an, dort sollen sich noch mehr Gefangene dem Todesmarsch anschließen. Sie erreichen Malchow. Im Augenwinkel erkennt Esther ein bekanntes Gesicht. Täuscht sie sich? Sie läuft auf Mirjam zu, die Müdigkeit ist egal. Mirjam Edel, ihre Freundin aus Neuendorf, mit der sie nach -Auschwitz deportiert wurde, steht vor ihr und kann es selbst kaum glauben. Um die beiden versammeln sich Irmgard, Schoschana und Anni sowie Sylvia und Carla, die auch im Mädchenorchester spielen mussten. Sieben junge Frauen, die sich in Neuendorf kennenlernten und nun wiederfinden.
Nachts rasten Esther und ihre Freundinnen auf den Plätzen der Kleinstädte. Der April ist unerbittlich kalt. Das Laufen zwingt sie, sich auf den harten Pflasterstein zu legen. Wenn sie die Augen schließt, verschieben sich Zeit und Raum, sie kann die Tage kaum mehr zählen. Am nächsten Morgen herrscht Chaos. Einige der Kolonnen lösen sich auf, die Front rückt näher, und immer mehr Bewacher verlassen ihre Posten. Aus den Wäldern um sie herum hören die sieben Frauen Schüsse. Die letzten Reserven der Deutschen kämpfen gegen die vorrückenden Alliierten.
Vom Feldweg bis zum Anfang des Walds ist es nur ein Katzensprung. Dicht und frühlingsgrün wächst das Gebüsch. Angestrengt versucht Esther sich vorzustellen, ob sie hinter den Blättern zu erkennen wären. Dann wagen sie es. Esther und ihre Freundinnen laufen los, still, geduckt. Seitlich ist der Weg etwas abschüssig, jemand strauchelt, fängt sich, sie erreichen das Dickicht, dann presst sich jede der Frauen an einen Baum. Esther blickt ihre Freundinnen der Reihe nach an, keine traut sich zu atmen. Sie warten ab, bis sie das Stapfen und Scharren der vorbeiziehenden Kolonne mit ihren Holzpantoffeln und den zerschlissenen Schuhen, das Rufen der Wachmänner nicht mehr hören können. Ein, zwei Stunden stehen sie da. Sie ziehen ihre gestreifte Kleidung aus und zum Vorschein kommen sieben junge Frauen, die kaum glauben können, dass ihnen die Flucht gelang.
Wohin jetzt? Aus dem Wald raus, vorsichtig fangen sie an zu laufen. Bis sie auf einen Treck aus Deutschen stoßen, die aus Berlin kommen und vor der heranrückenden Roten Armee fliehen. Esther und ihre Freundinnen bleiben auf Abstand, doch sie folgen dem Treck bis zu einem kleinen Dorf. In diesen unsicheren letzten Kriegstagen können die sieben nicht wissen, wer auf ihrer Seite steht oder sie verraten würde. Sie nehmen ihren Mut zusammen, der Hunger und die hereinbrechende Nacht treiben sie an, und klopfen an die Tür eines Bauernhofes. Für eine Nacht finden sie Unterschlupf in der Scheune des Bauers. Er bringt ihnen einen Eimer ungekochter Kartoffeln, kaum besser als das, was die Schweine kriegen. Doch für die sieben Frauen bedeutet er lebensrettende Nahrung.
Am nächsten Morgen weckt der Bauer sie in aller Früh. Im Westen liegt die Kleinstadt Lübz, die von der U. S. Army in den letzten Tagen eingenommen wurde, im Osten Plau am See, besetzt von der Roten Armee. Dazwischen eine kilometerweite Straße, auf der zwei US-amerikanische Panzer entlangrollen. Esther und ihre Freundinnen bewegen sich langsam auf die Panzer zu. Sie halten an, die Soldaten klettern herab. Wer sie seien? Esther schiebt ihren Ärmel hoch und spürt den Blick des Soldaten für ein, zwei Sekunden auf ihrem Unterarm ruhen. Dann schließt der Soldat sie in die Arme.