Hinweise zum Traditionserlass

geschrieben von Cornelia Kerth

8. September 2024

»Zeitenwende«: Kriegsverbrechen sind keine »menschliche Fehlbarkeit«

50 Jahre hat es gedauert, bis durch die »Wehrmachtsausstellung« dafür gesorgt wurde, dass endlich nicht nur überall sonst auf der Welt, sondern auch in Deutschland klar war: Die Wehrmacht war eine verbrecherische Organisation, und der Krieg, der gegen Polen, Jugoslawien und die Sowjetunion geführt wurde, war ein Vernichtungskrieg, an dem sich die Angehörigen der Wehrmacht auf allen Stufen der Befehlshierarchie beteiligten. Die Skandale um extrem rechte Netzwerke mit Umsturzplänen unter Beteiligung von Bundeswehr-Angehörigen und immer wieder bekannt gewordene rechte Umtriebe in der Truppe – besonders bei den »Spezialstreitkräften« – veranlassten die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen mehr als 20 Jahre danach zur Klarstellung per Traditionserlass: »Die Bundeswehr pflegt keine Tradition von Personen, Truppenverbänden und militärischen Institutionen der deutschen (Militär-)Geschichte, die nach heutigem Verständnis verbrecherisch, rassistisch oder menschenverachtend gehandelt haben.« In Hinblick auf »konkrete Einzelfälle« müsse man jedoch »die Frage persönlicher Schuld berücksichtigen und eine Leistung zur Bedingung machen, die vorbildlich oder sinnstiftend in die Gegenwart wirkt, etwa die Beteiligung am militärischen Widerstand gegen das NS-Regime oder besondere Verdienste um den Aufbau der Bundeswehr«.

Mit dem letzten Halbsatz konnte dann zum Beispiel die »General-Heusinger-Kaserne« in Hammelburg ihren Namen behalten, denn der verantwortlich an der Planung des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion einschließlich »Kommissarbefehl« und »Partisanenbekämpfung« beteiligte Namensgeber spielte eine zentrale Rolle bei Adenauers Remilitarisierungsplänen und dem Aufbau der Bundeswehr. Für die Kriegsverbrechen wurde er nie zur Verantwortung gezogen und konnte seine militärische Laufbahn als erster Generalinspekteur der Bundeswehr beenden.

Dem sozialdemokratischen Kriegstüchtigkeitsminister Boris Pistorius ist das offenbar zu wenig. »Ergänzende Hinweise« seines Ministeriums stellten der Truppe der »Zeitenwende« im Juli leuchtende Beispiele des deutschen Kriegers aus dem letzten deutschen Krieg zur Verfügung. Dort heißt es: »In der Traditionspflege der Bundeswehr mit Bezug zur Zeitenwende kommt der Gründergeneration der Bundeswehr eine bedeutende Rolle für traditionsstiftende militärische Exzellenz zu. Die rund 40.000 von der Wehrmacht übernommenen ehemaligen Soldaten hatten sich zu großen Teilen im Gefecht bewährt und verfügten somit über Kriegserfahrungen, die beim Aufbau der Bundeswehr unentbehrlich waren (…). Tradition wird besonders anhand von Persönlichkeiten greifbar, da hier die Vorbildhaftigkeit am besten veranschaulicht werden kann. Dabei ist die dem Geist des Traditionserlasses zugrundeliegende Auffassung von zentraler Bedeutung, dass Tradition nicht den Anspruch des makellosen Ideals erhebt und menschliche Fehlbarkeit akzeptiert.«

Damit werden die »Kriegserfahrungen« aus dem verbrecherischen Krieg explizit für traditionswürdig erklärt. Zu den im Anhang dazu beispielhaft gelisteten 24 Vorbildern gehört Erich Hartmann (1922–1993), mit 352 Luftsiegen im Zweiten Weltkrieg war er »erfolgreichster Jagdflieger der Militärluftfahrt« und diente der NS-Kriegspropaganda als Held.

Mit der Nennung von Brigadegeneral Heinz Karst (1914–2002), Front- und Lehroffizier (Panzeraufklärer) im Zweiten Weltkrieg, wird die sozialdemokratische Militärpolitik der 1970er-Jahre posthum in die Tonne gehauen, denn er »lehnte (…) eine Überbetonung des zivilen Anteils an der Inneren Führung ab« und wurde »für seine auf Kriegstauglichkeit gerichteten Positionen Anfang der 70er Jahre unter anderem durch das Spiegel-Magazin öffentlich kritisiert«. Dafür hat der Minister, der bei Truppenbesuchen gern Uniformteile trägt und damit sinnfällig das Primat der Politik relativiert, offenbar wenig Verständnis.

Der Geist des Krieges, den Pistorius fordert, fördert, pflegt und propagiert, ist brandgefährlich. Die »Vorbilder«, die diesen Geist nun in die Truppe (und die Öffentlichkeit) tragen sollten, stehen für den »totalen Krieg«, für millionenfachen Mord an Zivilist:innen und Kriegsgefangenen. Sie schafften damit zugleich die Voraussetzung für die millionenfache Verschleppung in die Zwangsarbeit, und die Gaskammern und Krematorien blieben bis zu ihrer Niederlage in Betrieb. Die moralische und politische Distanz dazu wird mit den »Ergänzungen« deutlich verkürzt.

Die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz und der Blog »augengeradeaus« machten die »Ergänzenden Hinweise« öffentlich, und nach einem Bericht der taz dauerte es nur wenige Tage, bis sie aufgrund der öffentlichen Kritik ziemlich genau einen Monat nach Inkrafttreten zurückgezogen wurden.

Wachsamkeit und Widerstand gegen den »neuen« deutschen Militarismus, der ganz der alte ist, ist dringend angesagt! Kriegsverbrechen sind keine »menschliche Fehlbarkeit«!