Am Scheidepunkt
1. November 2024
Die USA vor den Präsidentschaftswahlen und die Zerrissenheit der Linken
Die USA sind bekanntermaßen im Jahr der Präsidentschaftswahlen. Beim Blick in die medialen Debatten der letzten Monate, wird schnell klar, warum viele in den USA das Duell Trump vs. Harris am 5. November als eine Art Schicksalswahl begreifen. Dieser Eindruck wird nicht nur in den Medien und auf Social Media deutlich, auch wer sich aktuell auf den Straßen zwischen North Dakota und Texas sowie zwischen Kalifornien und Virginia bewegt, erhält den besten Eindruck von einer Nation, die mit sich selbst nicht im Reinen ist: Wo Menschen Angst vor dem haben, was kommen könnte, und wie sie ihre ganz eigenen Methoden entwickeln, damit umzugehen.
Während in Großstädten, wo vor allem demokratische Wähler*innen leben, ein Ausbau des Repressionsapparats und die Beschneidung von Minderheitenrechten befürchtet werden, decken sich andere auf dem Land mit Waffen ein, um eine »Sozialistin« zu verhindern. Ganz so einfach ist es am Ende natürlich nicht. Auch fern von New York, Chicago und Los Angeles organisieren sich Menschen gegen eine Wiederwahl Donald Trumps. Doch fährt man durch die ländlich geprägten Bundesstaaten, wie Ohio und Pennsylvania, hat man den Eindruck, die Wahl sei hier schon entschieden. Auf jedem zweiten Grundstück finden sich Schilder, die zur Wahl Donald Trumps aufrufen. Die beiden Bundesstaaten im Nordosten der USA gehören zu den sogenannten Swing States, in der die Mehrheit der Wähler*innen abwechselnd mal mehr die Demokraten, mal die Republikaner gewählt haben. Bei der letzten Wahl lag hier Joe Biden vorne, davor Trump. Nach den aktuellen Prognosen ist auch diesmal die Entscheidung völlig offen. Die Kandidatur von Kamala Harris hat das bislang nicht geändert. Zwar hoffen viele Demokraten, dass ab Januar 2025 sie im Weißen Haus sitzen wird, doch Teile der radikalen Linken sind sich nicht sicher, ob sie Harris wählen wollen. Das könnte fatale Folgen haben.
Kampagne der »Uncommitted«-Bewegung
Der Zustand der (radikalen) Linken ist derzeit vor allem von Zerrissenheit, politischen Richtungsstreits und den Debatten zum Nahen Osten geprägt. Das sah vor ein paar Jahren noch anders aus. Infolge der Wahl Donald Trumps 2016 waren viele Linke erschrocken. Nach den Obama-Jahren und der großen Enttäuschung über die Politik, die mit »Yes, we can!« ihren Anfang genommen hatte, wollten viele nicht der Demokratin Hillary Clinton ihre Stimme geben. Nicht wenige befürchteten eine Fortführung dieser Politik. Die Demokraten steckten zunächst in einer Krise. Doch vor allem der linke Flügel der Partei bekam durch charismatische Gesichter wie Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez einen enormen Zulauf. Jabari Brisport, Senator in New York und heute einer der führenden Sozialisten im Land, kam erst 2017 zur Politik und gehörte zu den tausenden Neumitgliedern der Democratic Socialists of America. Auch andere linke Bewegungen wuchsen schnell.
Laut einer Umfrage des Pew Research Center stehen 36 Prozent der US-Amerikaner*innen dem Sozialismus positiv gegenüber. Zwei Ereignisse führten zur weiteren Politisierung, vor allem der jungen Bevölkerung: der Neonaziaufmarsch von Charlottesville 2017, bei dem die Aktivistin Heather Heyer getötet wurde und der Tod von George Floyd 2020. Insbesondere im ersten Corona-Jahr entstand eine landesweite antirassistische Protestwelle, die zu Ausnahmezuständen führten. Trump und seine republikanischen Vertreter*innen in den Bundesstaaten antworteten mit Repressionswellen und Einschüchterungen. Die extreme Rechte fühlte sich gestärkt. Auch die US-Linke war sich bewusst geworden, dass sie die Wiederwahl Trumps nicht mit Protesten verhindern kann. Viele unterstützten daher den charismatischen Politiker Bernie Sanders aus Vermont. Nach dessen aussichtsloser Kandidatur folgten seine Anhänger*innen seinem Aufruf, Joe Biden zu unterstützen, um eine Wiederwahl Trumps zu verhindern.
Trotz der großen Mobilisierungsfähigkeit dieser Jahre hat sich die radikale Linke in den USA seitdem kaum weiterentwickelt. Zu wenig wurde über politische Strategien und Bündnisse geredet, meint etwa Bill Fletcher, ehemals leitender Mitarbeiter des Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO. Nicht wenige haben sich zurückgezogen. Ideologische Streitereien und gelegentlich Straßenproteste sind im Moment das Einzige, was sich als konstant bezeichnen lässt.
Auch mit Kamala Harris als demokratische Präsidentschaftskandidatin hat sich das nicht geändert. Während sie von großen Teilen des liberalen Amerikas gefeiert wird und vor allem bei jüngeren Wähler*innen an Zuspruch gewinnt, hat sie auch viele Kritiker*innen aus dem linken Lager. Sie ist keineswegs eine »Sozialistin«, wie Trump sie gerne darstellt. Sie will vor allem das System verbessern, es nicht abschaffen. Ihre Reden adressiert sie an die Mittelklasse und die Kleinunternehmer*innen. Linke Begriffe wie »Arbeiterklasse« sind von ihr nicht zu hören. Insbesondere ihre Arbeit als Bezirks- und Generalstaatsanwältin in Kalifornien wird ihr immer wieder vorgeworfen. Wie die Rechtswissenschaftlerin Lara Bazelon in einem New York Times-Beitrag von Januar verdeutlicht, hat Harris in ihrer Karriere viele regressive Anklagen oder Entscheidungen getroffen, wie etwa die Ablehnung der Herabstufung von geringfügigen Straftaten zu Ordnungswidrigkeiten oder ihren Einspruch zur Abschaffung der Todesstrafe in Kalifornien. Auch in Sachen Polizeigewalt steht sie eher auf der Seite der »Sicherheitskräfte« und lehnte mehrfach Gesetzesentwürfe, die diese besser kontrollieren sollten, ab. Allerdings hat sie in dieser Zeit auch progressive Positionen vertreten, kritisierte etwa die Masseninhaftierung von Schwarzen und griff als Senatorin ab 2016 immer wieder Republikaner in Anhörungen an. Sie unterstützte auch Ideen von Bernie Sanders zur allgemeinen Gesundheitsversorgung und Steuerreformen, die Geringverdiener*innen besserstellen sollen. Sie tritt für Gleichberechtigung und für stärkere Waffenkontrollen ein. Alles Punkte, in denen sie von der Linken unterstützt wird.
Bernie Sanders steht deshalb auch hinter Kamala Harris. Gleichzeitig mahnte er in einem Interview mit Newsweek, dass sie »eine Agenda vorlegen« müsse, »die die Bedürfnisse der Arbeiterklasse anspricht und nicht nur die der reichen Wahlkampfspender«. Wie der Journalist Lukas Hermsmeier in seinem Porträt für die Zeit schreibt, ist das Beständige bei Kamala Harris ihre Unentschiedenheit.
Der Krieg in Gaza verschärft die Konfliktlinien innerhalb der US-Linken. Selbst die Demokratische Partei ist zusehends gespalten in der Frage der Unterstützung Israels durch die US-Regierung. Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders forderten mehrfach die Einstellung der Waffenlieferungen und Sanktionen gegen die israelische Regierung. Gleichzeitig stehen sie hinter der Präsidentschaftskandidatin. Auf der anderen Seite hat sich mit der »Uncommitted«-Bewegung ein Flügel innerhalb der Partei gegründet, die sich aufgrund der Haltung zum Krieg nicht verpflichtet sieht für Harris im November zu stimmen. Die Spaltung, die vor allem zwischen Lokalpolitiker*innen und höheren Ämtern verläuft, verschärfte sich, als Harris ankündigte, Israel auch weiterhin zu unterstützen. Schon beim Nominierungsparteitag in Chicago Mitte August gab es Proteste. Einige linke Delegierte, die Harris nicht unterstützten, organisierten ein sogenanntes Sit-in vor der Tagungsstätte, nachdem die Organisator*innen sich geweigert hatten, einen propalästinensischen Aktivisten auf der Bühne sprechen zu lassen. Die Demonstrierenden erhielten dabei Unterstützung von mehreren Kongressabgeordneten, darunter Ilhan Omar und Alexandria Ocasio-Cortez. Für die Friedensaktivistin Simone Zimmerman ist »die Tatsache, dass die Demokraten nicht gewillt sind«, Netanyahu und Israel »entgegenzustellen« etwas, was sie nicht versteht, wie sie in einem Podcast-Beitrag schildert.
Vor allem an den Eliteuniversitäten, wie etwa der Columbia in New York City, scheint der Nahostkonflikt nahezu das einzige Thema für studentisches Engagement zu sein. Mit teils fragwürdigen Bündnissen wird unter dem Deckmantel einer Antikriegsbewegung vielfach gegen jüdische Studierende und die US-Regierung als »Genozid«-Unterstützer*innen Stimmung gemacht. Ganz offen wird mitunter die Vernichtung Israels propagiert und teils der Hamas gehuldigt. Innenpolitische Themen, wie der Kampf gegen Polizeigewalt und strukturellen Rassismus, scheinen hier hingegen fast überhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Im Stil einer Sekte mit strengen Regeln werden die Protestcamps geführt. Viele jüdische Studierende trauten sich nicht mehr, den Campus zu betreten, oder ihnen würde dies sogar von der Universitätsleitung abgeraten, schildert Michael Powell im Atlantic seine Beobachtungen der Proteste. Die Gefahr durch die (extremen) Rechten, ob Donald Trump die Wahl gewinnt oder nicht, wird hingegen kaum thematisiert.
Dabei besteht eine ernstzunehmende Bedrohung durch die extreme Rechte. Nicht nur die Republikanische Partei hat sich radikalisiert, sondern auch der rechte Rand der Gesellschaft. Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 hat gezeigt, dass militantere Taktiken schon längst keine Theorie mehr sind. Ähnlich wie in Deutschland wird sich auf einen möglichen Tag X vorbereitet. Bekannte Neonazis wie William Pierce und James Mason lieferten mit ihren Büchern die Standardwerke des Rechtsterrorismus, die bereits zu mehreren Hundert Toten nicht nur in den USA führten. Auch im Falle eines Wahlsieges Trumps dürfte sich die extreme Rechte nicht ruhig verhalten. Angesichts der Rhetorik des Republikaners werden seine Anhänger*innen sich ermutigt fühlen, ihre Gewalt auf die Straße zu tragen. Dieser Hass wird neben Migrant*innen und sexuellen Minderheiten am Ende auch die Linke treffen.
Diese sollte bereit sein, antifaschistische Bündnisse einzugehen, um der steigenden Gefahr eines rechten Autoritarismus entgegenzuwirken. Nur mit einer breiten Gegenmacht, die für wirkliche Verbesserungen für alle Menschen eintritt, lässt sich auch die Politik einer Kamala Harris beeinflussen. Ein Vorbild könnten die US-Gewerkschaften sein. Die Revitalisierung der Arbeiter*innenbewegung führte zu zahlreichen erfolgreichen Streiks, wie erst jüngst an der Ostküste der USA. Rund 45.000 gewerkschaftlich organisierte Hafenarbeiter*innen hatten ihre Arbeit niedergelegt und konnten so eine historische Einigung über ihre Löhne und Tarifverträge erreichen. Ein Arbeitskampf, den auch Kamala Harris unterstützt hat.