Antisemitismus ist unmenschlich
1. November 2024
Der 9. November 1938 und Feindschaft gegenüber Juden heute. Ein Gespräch mit Reinhard Schramm
antifa: Sie sind Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. In den vergangenen Tagen häuften sich angesichts des grassierenden Antisemitismus im Land Meldungen, es herrsche Ausnahmezustand in den Gemeinden und man brauche mehr Schutz. Wie stellt sich die Lage in Thüringen dar?
Reinhard Schramm: Bei uns in der Landesgemeinde gibt es seit 2019 – nach dem rechtsextremistischen Überfall auf die Synagoge in Halle – erhöhte Unsicherheit unter den Mitgliedern. Vor allen Dingen ältere Juden sind der Meinung, dass das, was in Halle passiert ist, auch hätte in Erfurt stattfinden können. Wir sind verunsichert, seit 2019 verstärkt und seit dem Pogrom vom 7. Oktober 2023 umso mehr. Wenn ich als Jude zwei schreckliche Wendepunkte nennen müsste, dann ist es, im Gedanken an meine Mutter, der 9. November 1938, der Übergang von Diskriminierung zum Mord, und in meiner Zeit das Pogrom der Hamas mit 1.200 ermordeten Juden 2023 in Israel und mit vor Freude über den Judenmord tanzenden muslimischen Antisemiten auf Berlins Straßen.
In Thüringen selbst decken sich unsere Wahrnehmungen mit den wachsenden Zahlen von antisemitischen Vorfällen, wie sie auch durch Organisationen wie die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) veröffentlicht werden. Solche Statistiken sind wichtig, und wir sind RIAS und anderen Organisationen dankbar. Wenn wir den wachsenden Antisemitismus nicht aufdecken, haben wir auch weniger Möglichkeiten, ihn zu bekämpfen.
antifa: Wie reagieren die Mitglieder Ihrer Gemeinde auf die Situation?
R. S.: Unterschiedlich. Ängste sind halt unterschiedlich. Man kann beispielsweise einer älteren Frau, die das Ghetto als Kind überlebt hat, nicht sagen, haben Sie keine Angst. Wir nehmen Ängste ernst und arbeiten sehr gut mit den staatlichen Organen in Thüringen zusammen. Die Sicherheitsmaßnahmen haben wir gemeinsam verstärkt.
antifa: Können Sie von Mitgliedern berichten, die ankündigen, die Koffer packen zu wollen?
R. S.: Wo sollen sie denn hin? Nachdem jetzt, ohne dass die Welt einen Aufstand macht, der jüdische Staat überfallen wird? Den Antisemitismus muss man hier und überall weiter bekämpfen, in all seinen Schattierungen.
antifa: Bei den Landtagswahlen im September wurde die AfD zur stärksten Kraft. Wie bewerten Sie das im Hinblick auf jüdisches Leben in Thüringen?
R. S.: Das furchtbare Ergebnis der AfD mit circa 30 Prozent in Thüringen, ähnlich aber auch in Brandenburg und in Sachsen, das war seit Monaten vorherzusehen. Jetzt haben wir ein Jahr Zeit, bis zu den Bundestagswahlen, um den Anteil der Wähler, die sich zur AfD bekennen, einzudämmen. Die demokratischen Parteien müssen da zusammenstehen, und es braucht eine breite gesellschaftliche Front gegen rechts. Verletzend und falsch finde ich Gleichsetzungen, wie sie beispielsweise zwischen Höcke und Ramelow angestellt wurden. Die Linke muss als Verbündete in den Kampf gegen die AfD eingebunden werden.
antifa: In wenigen Tagen jähren sich die Novemberpogrome von 1938. Sie sind rund ein Jahr vor der Befreiung geboren. Was sind persönlich Ihre Gedanken angesichts dieses Datums, auch bezogen auf den ungeheuren Rechtsruck und die Zunahme von Antisemitismus sowie Rassismus heutzutage in diesem Land?
R. S.: Wenn ich an die Folgen des 9. November 1938 denke, dann, dass dies schon allein auf jüdischer Seite zu sechs Millionen Ermordeten geführt hat. Dass Antisemitismus gerade in dem Land, von dem aus der Holocaust organisiert worden war, wieder zu neuen Höhen gelangt, das will ich einfach nicht wahrhaben. Ja, ich bin froh, dass meine Mutter als einzige weitere Überlebende meiner Familie das nicht mehr erleben musste.
Ansonsten muss ich natürlich sagen, dass der Antisemitismus, der auf dem Weg ist, wieder zum Verbrechen zu werden, nicht nur in Deutschland grassiert. Die Situation ist heute leider die, dass der Nationalismus in ganz Europa wächst: in Frankreich, in Österreich, in Ungarn, in Skandinavien … Und mit ihm der Antisemitismus. Es ist doch schauerlich, dass damit zugleich die europäische Idee infrage gestellt wird, mit der endlich einmal geschafft wurde, dass über Jahrzehnte in Europa kein Krieg war. Jetzt haben wir wieder einen Krieg auf dem Kontinent.
antifa: Wer es mit Antifaschismus ernst meint, sollte mit Angegriffenen solidarisch sein und auch angesichts der Hilferufe beispielsweise aus Ihren Gemeinden sich an die Seite der Opfer von Antisemitismus und Rassismus stellen. Fühlen Sie sich durch antifaschistische Gruppen aktuell unterstützt?
R. S.: Ich schätze alle, die die Vergangenheit nutzen, um die Zukunft menschlich zu gestalten. Ich weiß, wir haben viele Freunde und Partner unter den Antifa-Anhängern. Wir haben aber auch – wie in anderen Organisationen – Menschen, die uns traurig stimmen. Sie tun uns Juden bewusst weh. Gerade der Antiisraelismus trägt mitunter antisemitische Züge. Viele Menschen auch in der linken Szene wissen zu wenig über den Nahostkonflikt. Und manche vergessen, wie gerade in Deutschland der Antisemitismus unmenschlich war und ist.
Reinhard Schramm auf die Frage, was seitens der Jüdischen Landesgemeinde in Thüringen dieses Jahr um den 9. November stattfindet:
»Wir machen das jährlich sehr öffentlich, weil der 9. November 1938 auch in Thüringen in jedem Dorf, in jeder Stadt stattgefunden hatte – 1938 als furchtbarer Beginn und letzten Endes mit der Vernichtung der Juden in Europa. Wir gedenken am 8. November um zehn Uhr auf dem jüdischen Friedhof in der Werner-Seelenbinder-Straße in Erfurt. Am 9. November ist Schabbat. In Erfurt sind viele Vertreter der Gesellschaft anwesend, darunter Mitglieder der demokratischen Parteien und Organisationen, Vertreter der Schulen und der Kirchen und wir natürlich auch. Am 10. November werden wir ein Gedenkkonzert in unserem Kultur- und Bildungszentrum in Erfurt durchführen. Darüber hinaus sind wir an diesen Novembertagen bei verschiedenen Freunden und Partnern zugegen, die uns eingeladen haben.«
Das Gespräch führte Andreas Siegmund-Schultze.