Überleben in Auschwitz
14. März 2021
Notwendige Erinnerungen nach mehr als 60 Jahren
Neben einer Vielzahl von öffentlichen Veranstaltungen war das Gedenken an den Holocaust 2020, im 75. Jahr der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, zugleich von neuen Publikationen über das zum Synonym für den Massenmord an den europäischen Juden gewordene Konzentrationslager geprägt. Das sind sowohl Betrachtungen von Historikern als auch in Worte gegossene Erinnerungen von Menschen, die das Morden an diesem Ort überlebten. Exemplarisch für letztere steht der Band von Tomáš Radil »Ein bißchen Leben vor diesem Sterben«.
An einem Tag Mitte Juni 1944 war der damals 13jährige Junge gemeinsam mit seiner Familie und weiteren fast 2.700 Juden aus dem damaligen Nordungarn in das größte Vernichtungslager des »Dritten Reiches« deportiert und nach wiederholter Selektion von seinen Eltern getrennt worden, indem man ihn, der sich als 16jährigen Maurer ausgab, in die Kolonne von jugendlichen Arbeitsfähigen eingliederte. Sein Fazit: »Nun war ich in Auschwitz-Birkenau wirklich allein … Wie sollte ich – ein Kind mit mangelnder Lebenserfahrung – auf mich selbst gestellt die Fragen lösen, die mir hier begegneten, und die erforderlichen Schlussfolgerungen ziehen?« Dass er zu jenem Zeitpunkt sowie auch bei weiteren künftigen Aussortierungen dem Tod durch das Gas entkam, nannte er »Zufall und Glück«. Das siebenmonatige Am-Leben-Bleiben in Auschwitz bezahlte er mit dem Ertragen von Leiden, Pein und Schmerz. Im Januar 1945 zählte er zu jenen ausgemergelten Schwachen und Kranken, denen der Transport in frontabgewandte Konzentrationslager erspart blieb und die bei der Einnahme des Lagers durch die Rote Armee befreit wurden.
Schon nach den ersten furchtbaren Eindrücken in Auschwitz, empfand der Jugendliche, was er dann als reifer Mann aussprach: »Aber alles grub sich mir ins Gedächtnis, eine Art Konserve, die dann lange darauf wartete, geöffnet zu werden.«
60 Jahre benötigte Tomáš Radil, um sein Trauma in einer umfangreichen Publikation zu verarbeiten. Das tat er nunmehr bereits als ausgewiesener Psychologe und international anerkannter Wissenschaftler. Der 2009 erstmals veröffentlichte und elf Jahre später in die deutsche Sprache übersetzte Band dokumentiert in neun Kapiteln auf erschütternde Weise die Deportation nach Auschwitz, das Vegetieren im Vernichtungslager, die Befreiung und den Weg nach Hause. Darin bringt der Autor dem Leser sowohl die Topografie des Lagers als auch die Struktur der »Häftlingsgesellschaft«, das Funktionieren des Bewachungsapparates, die Sprache und Begrifflichkeit der Täter und Opfer bis hin zum Mechanismus der »Todesfabrik« Auschwitz verständlich nahe. Zugleich verknüpft er das von ihm Erduldete mit Erkenntnissen historischer Forschungen, ohne die Authentizität seiner Erlebnisdarstellungen einzuschränken. Er folgte seinem Anspruch, seinen »damaligen begrenzten Horizont eines Kindes von dem zu trennen, was (er) später erfahren hat, und aufgrund eigener Erinnerungen die Vergangenheit so getreu wie möglich wiederzugeben«. Besondere Aufmerksamkeit ziehen jene seiner Ausführungen auf sich, die psychologische Aspekte des Lagerdaseins behandeln. Darin haben die Analyse seiner Beobachtungen sowie seines Verhaltens und das seiner Mithäftlinge eine besondere Relevanz. Somit ist der Band eine unverzichtbare Quelle nicht nur für Historiker.
Tomáš Radils außergewöhnliche Darstellung ist ein wichtiger Beitrag, um historische Ereignisse und Prozesse zu verstehen. Sie wendet sich gegen das Vergessen, ist Mahnung und gedenkt all jener, die Opfer des faschistischen Massenmordens wurden.
Dank gebührt dem Arco-Verlag, der Radils Erinnerungen einem großen Leserkreis zugänglich machte, und Hubert Laitko für seine einfühlsame und authentische Übersetzung aus dem Tschechischen.