Blinde im Nationalsozialismus
4. September 2022
Neue Arbeitsgruppe zum Widerstand von Otto Weidt
Als Mitglied in deutschen Blindenverbänden war es mir immer wichtig, deren Geschichte aufzuarbeiten. Welche Möglichkeiten und Grenzen hatten Blinde und Sehbehinderte im Nationalsozialismus? Wie war das Leben in den Blindenschulen und -heimen, und welche beruflichen Möglichkeiten gab es? Wurden sie aufgrund ihrer Behinderung verfolgt und im Rahmen der Euthanasie ermordet?
Im November 1989 fand dazu in Berlin-Wannsee ein Seminar statt, an dem sich Mitglieder der deutschen Blindenverbände beteiligten. In spannenden Referaten lernten wir Grundlagen der NS-Ideologie gegenüber Behinderten und ihre Auswirkungen bis heute kennen. Zeitzeugen berichteten über ihren Alltag im NS. Ein wichtiger Schwerpunkt war »Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, die Praxis der Zwangssterilisation und die Haltung der Blindenorganisationen. Schließlich lernten wir Blinde kennen, die gegen die Nazis Widerstand leisteten. Die Referate und weitere Beiträge sind auch veröffentlicht worden.1
Daher freute es mich, als ich im Januar 2021 von der Gründung einer Arbeitsgruppe hörte, die sich mit dem Widerstand von Otto Weidt beschäftigte. Selber sehbehindert, betrieb er als Kleinunternehmer eine Bürstenbinderei in Berlin-Mitte im Hinterhof der Rosenthaler Straße 39 neben dem heutigen Anne-Frank-Zentrum, wo er vorwiegend blinde und gehörlose Juden beschäftigte, um sie vor dem Zugriff der Nazis zu schützen. Wenn jemand untertauchen musste, besorgte Weidt Nahrungsmittel, falsche Papiere und Verstecke. Auch in seiner Werkstatt lebten einige Illegale in einem Hinterzimmer. 1942 wurden alle Juden zum Abtransport ins KZ abgeholt, doch es gelang ihm durch Bestechung der Gestapo, alle vorübergehend wieder rauszuholen. Von den 33 bei ihm beschäftigten Juden überlebten sieben die NS-Zeit.
Einer war der spät erblindete jüdische Bankkaufmann Erich Frey, der 1940, mit 51 Jahren, bei Weidt als Bürstenbinder anfing. 1942, vor dem Untertauchen, verfassten er und seine Frau Elsbeth einen langen Brief an ihre Töchter, denen die Flucht gelungen war. Er schildert den von Schikanen und Drohungen bestimmten Alltag der Eltern in Berlin 1939 bis 1942. Tagebuchartig halten sie fest, wie ihr Leben von Entbehrung, Angst und Entwürdigung durchsetzt wird, das Mörderische des Regimes immer deutlicher wird. Beide wurden 1944 in Auschwitz ermordet.
Unsere AG setzt sich aus 18 blinden und sehbehinderten Menschen zusammen. Unsere Treffen führen wir als Telefonkonferenzen durch, wo wir uns intensiv mit dem Brief der Freys beschäftigten. Um die Verfolgung von Blinden und Sehbehinderten an die Öffentlichkeit zu bringen, beschlossen wir, mit Auszügen aus dem Brief am 8. Mai 2022 eine Lesung im Otto-Weidt-Museum zu machen. Neben telefonischen Absprachen trafen wir uns einige Tage vorher, um uns gezielt darauf vorzubereiten: Wir besuchten das Museum. Neben den interessanten Vorträgen war für mich wichtig, eine Bürstenbindermaschine mit meinen Händen zu ertasten. Außerdem betraten wir auch den Raum, wo Weidt die Juden versteckt hielt. Sehr eindrücklich war für mich die akustische Wahrnehmung dieses Raums und das Durchschreiten, um seine Größe zu erfassen. Bei der Lesung teilten wir verschiedene Abschnitte des Briefes auf, die von uns vorgelesen wurden. Dazwischen gab es Musik zum Thema. Diese Veranstaltung war ein echter Erfolg und muss, auch mit anderen Schwerpunkten, auf jeden Fall wiederholt werden.
1 Siehe Vereinszeitschrift des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) und die Broschüre »Blinde unterm Hakenkreuz: Erkennen, trauern, begegnen« (Marburger Schriftenreihe zur Rehabilitation Blinder und Sehbehinderter, Band 8)