Mit Marx Faschismus verstehen
13. September 2023
Und was daraus folgen kann
Dieses kleine Buch hat eine Vorgeschichte. Sie beginnt mit dem Scheitern des Versuchs, im 20. Jahrhundert in verschiedenen Ländern den Sozialismus aufzubauen. Seit dem »Manifest der Kommunistischen Partei« war die Schaffung einer solchen Gesellschaft, die nicht mehr der Kapitallogik unterworfen sein sollte, erklärtes Ziel der politischen Arbeiterbewegung. Da die dafür notwendigen tiefgreifenden Veränderungen nicht innerhalb kurzer Zeitspannen zu bewältigen wären, entwickelte Marx den Gedanken, dass zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus notwendig eine Übergangsperiode existieren müsse – eine Epoche sozialer Revolution.
Die Niederlage des Sozialismus in der ersten Phase dieser Epoche bot seinen Gegnern die Chance, seine theoretischen Grundlagen gleichermaßen für gescheitert zu erklären. Wenn diese 75 Jahre des 20. Jahrhunderts Marx’ »Epoche sozialer Revolution« gewesen sein sollten, so war die nun endlich vorbei! Nach dem Willen der Sieger sollten der Marxismus und alle sich auf ihn berufenden revolutionären Strategien von nun an und für immer in der Versenkung verschwinden.
Aus dem offiziellen akademischen Diskurs wurde die Beschäftigung mit dem Marxismus daher konsequent verbannt. In Folge dessen ist heute eine ganze Generation junger Geisteswissenschaftler herangewachsen, die höchstens fragmentarisch von Marx gehört hat und die für das Verständnis seiner Philosophie notwendigen Kategorien gar nicht mehr kennt. Die alte Generation marxistischer Philosophen stirbt nach und nach aus und konnte ihre Erkenntnisse in den vergangenen 30 Jahren meist nur noch in informellen Zusammenhängen austauschen.
Der Autor dieses Buches, ein an der Humboldt-Universität ausgebildeter Philosoph, der zur Wendezeit noch zum wissenschaftlichen Nachwuchs zählte, hat die drei Jahrzehnte allerdings genutzt, um unbezahlt und ohne akademisches Umfeld aus marxistischer Sicht die neu entstandene gesellschaftliche Situation und ihre Perspektiven zu analysieren. Und das nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse, sondern immer mit dem Anspruch, auf diese Weise aktuelle politische Kämpfe theoretisch zu begleiten. Ein Ergebnis ist sein 2022 im kleinen Berliner Verlag für Wissenschaft und Bildung erschienenes Buch »Faschismus, Antifaschismus und Epoche sozialer Revolution. Versuch einer philosophischen Annäherung«.
Jürgen Horn geht darin von der aktuellen Frage aus, wie der Höhenflug rechtspopulistischer und faschistischer Bewegungen in Europa zu erklären und zu bekämpfen ist. Im Unterschied zu vielen eher oberflächlichen Antworten, die Parteiengezänk, Folgen der Pandemie oder die Sehnsucht nach einfachen Lösungen als Ursachen ausmachen, sieht er die Widersprüche, die von Marx für die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zur klassenlosen Gesellschaft beschrieben wurden als grundlegend für die bereits seit rund 100 Jahren existierende Tendenz zum Faschismus an. Wegen der ungleichmäßigen Entwicklung dieser Widersprüche ist für ihn jedoch nicht alles, was aktuell faschistoid daherkommt, auch faschistisch. So charakterisiert er etwa das Erdogan-Regime in der Türkei als bonapartistisch, was Konsequenzen für den Kampf zu seiner Überwindung hat.
Da Marx den Faschismus selbst nicht kennen konnte, sind seine Erkenntnisse nur als Methode für die Analyse nutzbar. Das war schon der Ansatz der Komintern, deren Definitionen von Faschismus als Bewegung und Faschismus an der Macht bis heute diskutiert werden. Der Autor weist anhand einer Quellenanalyse nach, dass die meisten Interpretationen dieser Thesen politischen Intentionen folgen. Eben aus politischen Erwägungen war auch die Sicht auf Marx’ These von der Epoche sozialer Revolution lange kanonisiert. »Wie lange dauert es noch bis zum Kommunismus? Nicht mehr lange, wir wollen ihn doch alle noch erleben.« Diese Illusion ist gescheitert, die von Marx beschriebene Entwicklungstendenz der Gesellschaft damit jedoch nicht widerlegt.
Die interessanteste These des Buches von Jürgen Horn besteht für mich in seiner Idee, dass der Übergang von einer Gesellschaft, die auf privatem Eigentum an Produktionsmitteln basiert, zu einer klassenlosen Gesellschaft fundamentale Umwandlungsprozesse erfordert, die nur vergleichbar sind mit dem Übergang von den auf Gemeineigentum beruhenden frühen Gesellschaften zur Sklavenhaltergesellschaft. Für diesen Übergang stehen die sogenannten frühen orientalischen Klassengesellschaften, die in aufeinanderfolgenden Kulturen über einen Zeitraum von etwa 3.000 Jahren existiert haben. Doch so viel Zeit haben wir heute nicht mehr. Die bisherige Form der Aneignung der Natur führt zu ihrem Verbrauch und zu ihrer Zerstörung. Wenn es nicht gelingt, diesen Prozess zu stoppen – und dazu sind auf Profitinteressen basierende Gesellschaften nicht in der Lage – geht die Geschichte der Menschheit ihrem Ende entgegen.
»Komm ins Offene, Freund!« Eine Aufgabe für den Marxismus wie für die gesamte Menschheit.
Die marxistische Philosophie wurde in der DDR als in sich geschlossenes System betrachtet. Verändert sich die Sicht auf einen Teilbereich hat das Folgen für das ganze System. Wenn ich, wie der Autor, die Epoche sozialer Revolution als eine lange Periode materieller, sozialer und kultureller Veränderungen betrachte, hat das notwendig Konsequenzen für andere Bereiche, etwa für die Rolle von Staat und Revolution.
Über den VVN-BdA-Webshop shop.vvn-bda.de erhältlich