Weiterhin Spitzenreiter
14. September 2023
»Rechtsrockland« Thüringen: Neonaziszene erholt sich von Flaute bei Pandemie
Als »Rechtsrockland« bezeichnete das ARD-Fernsehen das Bundesland Thüringen in seiner gleichnamigen Dokumentation schon im Jahr 2018. Es waren die Jahre großer Neonazifestivals unter dem Schutz des Versammlungsrechts im Freistaat, wie 2017 im kleinen Südthüringer Ort Themar, wo etwa 6.000 Neonazis anreisten und spät abends lautstark »Sieg Heil« skandierten. Auch die zweitägigen »Schild und Schwert«-Festivals im sächsischen Ostritz wurden von einem Thüringer Neonazi organisiert. Die Mischung aus Rechtsrock, Tattoowettbewerben und Kampfsport lockte rund 1.300 Neonazis an.
2018 zählte die Mobile Beratung (mobit) 72 Rechtsrockveranstaltungen in Thüringen und damit die meisten seit Beginn des Monitorings: Pro Woche fand im Freistaat im Schnitt mindestens eine dieser Veranstaltungen statt. Auch bundesweit war Thüringen bei Neonazikonzerten jahrelang im Pro-Kopf-Vergleich ein Spitzenreiter. Doch die Pandemie mit den einhergehenden Einschränkungen machte den florierenden Unternehmen und ihren Organisator*innen einen Strich durch die Rechnung, auch die eilig eingerichteten gestreamten »Onlinekonzerte« fruchteten nicht.
T-Shirt aus dem von einem Neonazi betriebenen Shop des »Goldenen Löwen« in Kloster VeßraGegenüber dem Rekordjahr 2018 sank drei Jahre später die Zahl der Musikveranstaltungen auf ein Fünftel, von großen keine Spur. Für die eben noch erfolgreichen und geschäftstüchtigen Bewegungsunternehmer brachte dies große Bedeutungs- und Gewinnverluste, Schätzungen belaufen sich auf Gewinneinbußen von bis zu 75 Prozent. Ein Grund für die neonazistische Gruppierung »Turonen«, die bislang vor allem Rechtsrockfestivals organisiert hatte, groß in das Drogen- und Rotlichtmilieu einzusteigen. Nach Razzien und Festnahmen 2021 und 2022 fehlen dem Thüringer Rechtsrockbusiness nun zentrale Figuren, ihre Kontakte und tragfähige Strukturen.
Als Konsequenz greift die Neonaziszene in Thüringen auf Immobilien von extrem rechten Besitzern zurück, wie aus den Antworten auf aktuelle Anfragen der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht. So fanden im ersten Halbjahr 2023 bundesweit mindestens 70 extrem rechte Musikveranstaltungen statt, darunter Rechtsrockkonzerte und »Liederabende«. Mit Verweis auf »geheimhaltungsbedürftige Informationen« gibt die Bundesregierung detaillierte Angaben allerdings nur zu 33 derartigen Veranstaltungen preis. Allein davon fanden 14 in Thüringen statt. Kein Zufall, wie ein genauer Blick auf die Veranstaltungsorte zeigt.
Bis auf ein aufgelöstes Konzert verteilten sich die aufgelisteten Veranstaltungen im zweiten Quartal dieses Jahres zum Beispiel auf einschlägig bekannte Orte. Es sind die Landesparteizentrale der mittlerweile in »Die Heimat« umbenannten NPD in Eisenach, die »Gedächtnisstätte« in Guthmannshausen und die Gaststätte »Goldener Löwe« in Kloster Veßra. Alle drei sind Immobilien im Besitz von extremen Rechten und bieten einen legalen Rahmen für die Konzerte.
Die Zeiten der Schnitzeljagden mit diversen Schleusungspunkten sind lange vorbei, nun können die Veranstaltungsorte auch einfach und offiziell beworben werden. Als Teile der extrem rechten Lebenswelt in Thüringen sind sie auch regional gut verankert. Der »Goldene Löwe« des langjährig aktiven Neonazis Tommy Frenck ist im Ort die einzige Gaststätte und bietet nebenbei mit seinem Versand »Druck 18« eine unkomplizierte Einkaufsmöglichkeit für extrem rechtes Merchandising. In der Landesparteizentrale in Eisenach unter Leitung von Patrick Wieschke trainierte die neonazistische Kampfsportgruppe »Knockout 51«, die sowohl als Security für Konzerte fungierte als auch bei Veranstaltungen wie Disco-Events für die lokale Bevölkerung. Aufmerksamkeit und zusätzliche Aufträge dürften die Konzerte auch Wieschkes »Antiquariat für zeitgenössische Literatur« bringen, wo er allein Hitlers »Mein Kampf« in elf Ausgaben anbietet. Auch im Rittergut Guthmannshausen finden die extrem rechten Liederabende nicht isoliert von den übrigen Aktivitäten des geschichtsrevisionistischen Vereins »Gedächtnisstätte« statt. Wenn dort Liedermacher wie Tobias Winter alias »Bienenmann« mit guten Kontakten zum Blood-and-Honour-Netzwerk auftreten, geht es nicht nur um Vernetzung. Mit solchen Auftritten binden sich auch jüngere Neonazis an den etwas überalterten Verein und nehmen dessen Angebote wahr.
Die Immobilien im Besitz der extrem rechten Szene in Thüringen sorgen dafür, dass die Zahl der Rechtsrockkonzerte und Liederabende nach der pandemiebedingten Zwangspause wieder ansteigt. Entgegen der Angaben der Bundesregierung zählt mobit für die ersten sechs Monate dieses Jahres landesweit 29 Rechtsrockkonzerte und »Liederabende«. Dies entspricht der Hälfte der Veranstaltungen im Jahr 2017. Mit Hilfe ihrer eigenen Immobilien ist die extrem rechte Szene im Freistaat nach der Pandemie bestrebt, den Titel »Rechtsrockland« für Thüringen zu verteidigen.