Hoffnung und Wut

geschrieben von Leo Welsing

4. Juli 2024

Eine internationale Delegation beobachtete die türkischen Kommunalwahlen

Auf die Kommunalwahlen in der Türkei im Frühjahr 2024 wurde aus vielen Gründen gespannt geblickt. Bei den letzten Kommunalwahlen 2019 hatte die kemalistische CHP, die größte Oppositionspartei zu Erdoğans AKP, in den großen Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir, die Bürgermeister*innen stellen können. Nachdem Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen 2023 als Sieger hervorgegangen war, hoffte die AKP auf eine Bestätigung dieses letzten Abstimmungsergebnisses. Für die kurdische Volkspartei DEM (ehemals HDP) hingegen bedeuten die Wahlen ein Kampf gegen massive Repression der türkischen Regierung. Schon 2017 und 2019 wurden gewählte Bürgermeister*innen der Partei abgesetzt und durch Zwangsverwaltungen ersetzt. Bis heute sind ehemals gewählte Bürgermeister*innen unter fadenscheinigen Gründen in Haft. Die Zwangsverwaltungen schlossen zivilgesellschaftliche Organisationen, insbesondere Frauenvereine, verkauften öffentliche Flächen und führten die Assimilationspolitik und die Auslöschung kurdischer Sprache und Kultur mit neuer Härte fort.

Zur Wahlmanipulation umgemeldet

Bereits im Vorfeld der Wahl 2024 reichten Vertreter*innen der DEM eine Beschwerde beim Hohen Wahlausschuss YSK ein, weil mehr als 50.000 Menschen kurzfristig vor der Wahl gezielt in kurdische Städte umgemeldet worden waren. Der Wahlausschuss wies die Einwände zurück. Zudem sah sich die DEM in ihrem Wahlkampf durch das stetig verlängerte Versammlungsverbot der Zwangsregierungen in den meisten kurdischen Städten stark eingeschränkt.

Als Teil der Wahlbeobachtungsdelegation der DEM, die aus 125 europäischen Internationalisten bestand, konnte ich am Wahltag die massive Militärpräsenz und Einschüchterungspolitik an den Wahlurnen in kurdischen Dörfern und Städten beobachten. Wir besuchten verschiedene Wahllokale in der Provinz Bingöl (Ostanatolien). Militärfahrzeuge und schwerstbewaffnete Soldat*innen der Gendarmerie patrouillierten vor und in den Wahllokalen. Wahlbeobachter*innen wurden oft des Geländes verwiesen, es wurden Pässe kontrolliert, und einige berichteten, verfolgt worden zu sein.

Der Wahlbetrug durch die Ummeldung ortsfremder Staatsbediensteter, häufig der Polizei und des Militärs – vor allem in Şırnak, Siirt, Qars, Iğdır und Ağrı –, wird besonders eindrücklich auf Videos, auf denen große Zahlen junger Männer mit Kurzhaarschnitt in Bussen und teils auch Militärfahrzeugen zu den Wahlurnen gefahren werden. Angesichts dieser massiven Wahlfälschung ist es nur wenig erstaunlich, dass in der kurdisch geprägten Regionen Şırnak die AKP knapp vor der DEM gewonnen hat. In Qars führt sogar die extrem rechte ultranationalistische MHP.

Doppelte Stimmabgaben

Darüber hinaus gab es viele weitere Fälle von Wahlverfälschungen. Häufig stimmten Personen für ihre Angehörigen mit ab, zum Beispiel für scheinbar blinde oder kranke Ehefrauen. In einigen Wahllokalen wurden Pässe vom Militär vor dem Einlass kontrolliert. Soldat*innen erschienen in Uniform zur Stimmabgabe, verfassungsrechtlich ist das in der Türkei verboten. Einigen Soldat*innen wurden die Wahlscheine nicht abgenommen, so dass sie mehrmals wählen konnten. Der lautstarke Unmut über diese undemokratischen Wahlverhältnisse kostete den DEM-Sprecher und Wahllokalbetreuer Emin Çelik das Leben bei einer Auseinandersetzung in Sur (Diyarbakir/Amed).

Das alles sorgte für große Wut in den kurdischen Gebieten der Türkei. Doch das Wahlergebnis gibt, allen Widrigkeiten zum Trotz, viel Hoffnung: Nicht nur hat die AKP eine historische Niederlage gegenüber der säkularen CHP erlitten, auch in Kurdistan zeichnet sich die DEM als klare Siegerin ab. Besorgniserregend ist hingegen der Machtgewinn der extrem rechten MHP, die den Grauen Wölfen nahesteht, sowie der Zugewinn des Hisbollah-Parteiablegers Hüda Par, beides Parteien, die die AKP mit ins Parlament geholt hat.

Seither befinden sich die DEM-Bürger-meister*innen zwischen der stetigen Angst vor erneuten Repressionen und der Hoffnung auf eine freiheitlichere, demokratische Zukunft. In Van kam es zu Massenprotesten, nachdem bereits am ersten Amtstag die Kandidatur des gewählten DEM-Bürgermeisters Abdullah Zeydan annulliert wurde. Es kam zu einer Zwangsverwaltung unter dem eigentlichen Verlierer und AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, was auch durch hochrangige Politiker der CHP verurteilt wurde. Durch den massiven Widerstand der Bevölkerung und die innenpolitisch geschwächte Position der AKP gab die Regierung den Protesten tatsächlich nach, und die Zwangsverwaltung konnte vorerst verhindert werden.

Trotz dieses starken Zeichens wurde Anfang Juni eine weitere Zwangsverwaltung in Hakkâri (kurdisch: Colemêrg) errichtet, und die türkische Polizei ließ etwa zwei Wochen später die Reisepässe kurdischer Bürgermeister*innen »aus Gründen der allgemeinen Sicherheit« sperren. Der kurdische Kampf um Selbstbestimmung geht also weiter, und wir stehen solidarisch an ihrer Seite.

Leo Welsing ist IPPNW-Mitglied und war Teil der Wahlbeobachtungsdelegation der DEM. Der Text ist die für antifa aktualisierte Fassung von Leos Bericht auf blog.ippnw.de.