Alles zu tun
1. November 2024
Vor gut 100 Jahren wurde die Antifaschistin und Musikwissenschaftlerin Inge Lammel geboren
Als vor 86 Jahren, in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, die Synagogen brannten, wurde mein Großvater Julius Rackwitz von zu Hause abgeholt und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Seine 14jährige Tochter Inge floh in dieser Nacht vor den Nazihorden aus der jüdischen Haushaltungsschule Lehnitz bei Oranienburg (Brandenburg). Zu Hause angekommen, war der Vater schon weg – Inge spricht vom ersten wahren Schock in ihrem Leben. Als ihr Vater kurz vor Weihnachten kahl geschoren nach Hause kam, wurde er aufgefordert, schnellstens Deutschland zu verlassen. Die Eltern beschlossen: Zuerst müssen die Kinder weg!
Per Kindertransport 1939 Nazis entkommen
Inge und ihre Schwester Eva entkamen mit einem der letzten Kindertransporte 1939 nach England in die Emigration. Die Eltern, Ella und Julius Rackwitz, mussten ab 1941 Zwangsarbeit leisten und wurden zur Untermiete in sogenannte Judenhäuser in Berlin-Schöneberg eingewiesen. Alle Bemühungen, Deutschland zu verlassen, scheiterten letztlich am fehlenden Geld. Der Vater war 1936 aufgrund des Erlasses des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« als Beamter und Auslandskorrespondent von der Dresdner Bank zwangspensioniert worden und verwendete seine kleine Pension für die Ausreise seiner Töchter. Im Rahmen der »Fabrikaktion« wurden Inges Eltern 1943 am Arbeitsplatz verhaftet, nach -Auschwitz und Theresienstadt deportiert und ermordet.
Unter dem Einfluss linker und jüdischer Emigranten in London begann sich Inge politisch zu organisieren, lernte unter anderem Ernst Hermann Meyer und Jan Koplowitz kennen und trat der Freien Deutschen Bewegung (auch Bewegung Freies Deutschland, antifa), dem Freien Deutschen Kulturbund sowie der KPD-Gruppe der deutschen Emigranten in England bei. Sie sang mit dem Meyer-Chor während der Luftangriffe vor den Engländern in den U-Bahn-Tubes sowohl deutsche und englische Volkslieder als auch klassische und antifaschistische Lieder. Inges 21. Geburtstag am 8. Mai 1945 war ein besonderer – der Tag der Befreiung vom -Nationalsozialismus. Aus der privaten Feier wurde ein Freudenfest auf dem Trafalgar Square.
Um beim Aufbau eines neuen antifaschistischen Deutschlands mitzuhelfen, kehrte Inge 1947 bewusst in die SBZ nach Ostberlin zurück. Dort lernte sie 1948 auch meinen Vater Karl kennen, heiratete 1950 und gebar 1953 ihren Sohn Jürgen und 1955 ihre Tochter Eva. Ernst Hermann Meyer animierte sie zum Studium der Musikwissenschaften und war Mentor ihrer Diplomarbeit zur Arbeitermusikkultur, worüber sie später auch promovierte. Im Zuge des Aufbaus und der Leitung des Arbeiterliedarchivs an der Akademie der Künste der DDR von 1954 bis 1985 wurde sie unter anderem von Hanns Eisler, Ernst Hermann Meyer und Wolfgang Steinitz begleitet. Unter Inges Leitung wurde das Arbeiterliedarchiv zu einem der Zentren internationaler Arbeiterliedforschung. Für ihre Verdienste wurde Inge vielfach geehrt, unter anderem mit dem »Hanns-Eisler-Preis« und dem »Vaterländischen Verdienstorden in Bronze« der DDR.
Wie viele verstanden sich auch Inges Eltern als liberale, assimilierte, patriotische und kulturell gebildete Deutsche jüdischen Glaubens. Mit welchem Recht wurde ihnen die deutsche Identität aberkannt? Mit welchem Recht wurden sie auf ihr »Jüdischsein« reduziert, selektiert, entrechtet, enteignet und ermordet? Diese Fragen bewegen auch uns in der zweiten Generation. Unsere Mutter verlor neben ihren Eltern fünf Tanten in Auschwitz. Dieses schwer zu ertragende Unrecht, die schreiende Ohnmacht und das Schuldgefühl, nichts getan haben zu können, prägten sie zutiefst. Die Mischung aus dieser traumatischen frühen Erfahrung und den Einflüssen durch linke politische Emigranten in England prägte ihr weiteres Leben. Daraus entstand ihre nie versiegende Kraft, alles zu tun, dass sich diese Geschichte nie mehr wiederholt.
Ehrung der Lebensleistung von Inge Lammel
Uns Kindern ist es eine Herzensangelegenheit, die Lebensleistung unserer Mutter Inge Lammel zu würdigen: ihre über 60-jährige Pionierarbeit bei der unermüdlichen Erforschung und Archivierung sowohl des Arbeiterliedes in der Akademie der Künste der DDR bis 1985 als auch des jüdischen Lebens und Widerstands in Pankow bis Kriegsende nach ihrer Pensionierung sowie ihre Publikationstätigkeit dazu. Inges Erforschung des Schicksals jüdischer Familien in Berlin-Pankow nach ihrer Pensionierung wurde nach und nach zu einer gemeinschaftlich getragenen Initiative, aus der heraus Bücher, Stadtführer, Ausstellungen und Gedenktafeln zur Erinnerung an jüdische Bewohner und Einrichtungen, Gedenkveranstaltungen, Pankower Lichterketten, Treffen ehemaliger Zöglinge des Jüdischen Waisenhauses Pankow entstanden und nicht zuletzt der »Verein der Förderer und Freunde des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses in Pankow« gegründet wurde. Dafür wurde sie 2012 mit dem »Bundesverdienstkreuz am Bande« der BRD geehrt. Sie war Mitbegründerin des BdA Pankow und von 2011 bis zu ihrem Tod am 2. Juli 2015 Ehrenvorsitzende der Berliner VVN-BdA. Anlässlich des 100. Geburtstages unserer Mutter veröffentlichten mein Bruder Jürgen Lammel und ich das Büchlein »Inge Lammel: Emigrantin – Antifaschistin – Musikwissenschaftlerin« in der Reihe »Jüdische Miniaturen« bei Hentrich & Hentrich.
Am 7. Mai 2024, dem Vorabend des 100. Geburtstages unserer Mutter, veranstaltete ich gemeinsam mit der VVN-BdA Berlin-Pankow eine Buchvorstellung im Betsaal »Leslie Baruch Brent-Hall« des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses Pankow, gestaltete zusammen mit dem Publizisten Wolfgang Herzberg das Programm, und wir konnten für die musikalische Untermalung Michael Zachcial und Felix Kroll von den »Grenzgängern« gewinnen, die politische und Arbeiterlieder vortrugen. Der Saal war voll, und es war ein gelungener Abend. An dieser Stelle möchte ich nochmals der VVN-BdA Berlin-Pankow herzlich danken.
Eine weitere Buchvorstellung findet am 7. November zum Anlass der Pogromnacht gemeinsam mit dem Verein »Wir waren Nachbarn« in der Ausstellungshalle des Rathauses Schöneberg statt, in der sich unter den 170 biografischen Alben der von 1933 bis 1945 verfolgten und ermordeten jüdischen Nachbarn auch das der Familie Rackwitz befindet.
Eva Hackenberg ist die Tochter von Inge Lammel.